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DOI: 10.1055/a-2507-1085
„Bitte gebt ASS und Heparin!“ – juristische Aspekte telenotfallmedizinischer Einsätze
- Berufsrecht und Telenotfallmedizin
- Datenschutz
- Irrtümer bei der Diagnosestellung vs. unzureichende Befunderhebung
- Telenotärztliche Delegation
- Aufklärung und Einwilligung
- Dokumentation
Gender-Hinweis
Zur besseren Lesbarkeit wird in diesem Beitrag das generische Maskulinum verwendet. Die hier verwendeten Personenbezeichnungen beziehen sich – sofern nicht anders kenntlich gemacht – auf alle Geschlechter.
Die Telenotfallmedizin nimmt im Rahmen der Notfallversorgung in Deutschland einen zunehmend wichtigen Stellenwert ein. Gleichzeitig wirft diese Entwicklung eine Reihe juristischer Fragen auf, die es zu klären gilt. Im Mittelpunkt stehen dabei insbesondere rechtliche Aspekte der Fernbehandlung sowie der Delegation ärztlicher Aufgaben an Rettungsdienstpersonal vor Ort. Während die Fernbehandlung bislang durch die berufsrechtlichen Vorschriften der Bundesärztekammer geregelt wurde, ergeben sich im Telenotarzteinsatz konkrete Fragestellungen zur Verantwortungsübertragung auf nichtärztliches Personal. Ein weiterer zentraler Punkt betrifft die Dokumentationspflicht. Hierbei müssen die Anforderungen an die Nachvollziehbarkeit von Entscheidungen sowie an den Datenschutz berücksichtigt werden. Dieser Beitrag beleuchtet einen Telenotarzteinsatz aus juristischer Perspektive und soll damit Transparenz und Akzeptanz der Telenotfallmedizin stärken.
Freitagabend, Alarmierung des RTWs mit dem Stichwort „Schmerzen“ zu einer 63-jährigen Patientin in die Häuslichkeit.
Vor Ort ergibt sich, dass die Patientin seit drei Tagen Schmerzen im Oberbauch, Übelkeit und Erbrechen hat. Der Atemweg ist frei, auskultatorisch liegt ein vesikuläres Atemgeräusch mit normaler Atemarbeit vor, es zeigt sich eine dezente Tachypnoe und eine periphere Sauerstoffsättigung > 95% unter Raumluft. Weiterhin besteht eine Sinustachykardie mit 125 bpm bei einem Blutdruck von 143/85 mmHg. Pulse sind peripher beidseits gut tastbar, es besteht kein fokal neurologisches Defizit. Die Patientin ist normoglykäm und normotherm. Die Schmerzen werden mit dem Wert 8/10 auf der numerischen Rating Skala (NRS) angegeben. Die Patientin hat eine Paracetamol-Allergie sowie einen arteriellen Hypertonus, eingestellt mit Candesartan; für ihren bekannten Reflux nimmt sie täglich Pantoprazol ein. Operationen oder weitere Vorerkrankungen werden verneint.
Zur Gabe antiemetischer Medikamente und Opioid-Analgetika wird die diensthabende Telenotärztin hinzugezogen.
Berufsrecht und Telenotfallmedizin
Das strenge Verbot der reinen Fernbehandlung bei telemedizinischem Handeln wurde durch eine Anpassung von § 7 Abs. 4 Musterberufsordnung für deutsche Ärztinnen und Ärzte (MBO-Ä) liberalisiert. Diese Liberalisierung war konsequent und zeitgemäß. Telemedizin stellt begrifflich die Erbringung einer medizinischen Leistung in den Bereichen Diagnostik und Therapie sowie der ärztlichen Entscheidungsfindung über räumliche Entfernungen oder zeitlichen Versatz hinweg unter dem Einsatz von Informations- und Kommunikationstechnologien dar. Fernbehandlung wird als Situation verstanden, in welcher der Patient oder für diesen Dritte dem Arzt Angaben über die Symptome und Beschwerden ausschließlich schriftlich oder über Kommunikationsmedien übermittelt, und der Arzt eine Diagnose stellt und/oder einen Behandlungsvorschlag unterbreitet, ohne den Patienten gesehen oder persönlich untersucht zu haben. Diese räumliche Distanz wurde als grundsätzliches Gefahrenmoment verstanden. Seit der Änderung von § 7 Abs. 4 MBO-Ä ist es nun aber möglich, ohne persönlichen Erstkontakt eine Behandlung durchzuführen, wenn dies „im Einzelfall ärztlich vertretbar ist“. Mit diesen Einschränkungen wird deutlich, dass ein ärztlicher Beurteilungsspielraum besteht. Zu Beginn einer Behandlung muss zunächst geprüft werden, ob in diesem Einzelfall (patienten- und/oder krankheitsspezifisch) überhaupt eine reine Fernbehandlung im Betracht kommt.
Die Hinzuschaltung des Telenotarztes hat nicht nur den Charakter einer Zweitmeinung oder eines Konsils. Rechtlich betrachtet ist es vielmehr so, dass der Telenotarzt mit der Eröffnung des Einsatzes bzw. der Hinzuschaltung in den Einsatz die gleichen Pflichten hat wie ein vor Ort befindlicher Notarzt.
Übrigens …
Der Telenotarzt kann auch vom bodengebundenen Notarzt zu dem Einsatz hinzugezogen werden. Dabei handelt es sich nicht nur um ein Konsil oder eine Zweitmeinung. Rechtlich übernimmt der Telenotarzt vielmehr (neben dem vor Ort befindlichen Notarzt) die volle Verantwortung für seinen Teil der Behandlung. Die Verantwortung für Maßnahmen durch den Notarzt vor Ort verbleibt bei diesem. Sowohl Telenotarzt als auch der vor Ort befindliche Notarzt dürfen auf die Richtigkeit des Handelns des anderen vertrauen, wenn sie unterschiedlichen Fachrichtungen angehören (horizontaler Vertrauensgrundsatz).
Bei der Nachforderung eines boden- oder luftgebundenen Notarztes durch den Telenotarzt muss eine Übergabe an diesen erfolgen. Die Einsatzverantwortung geht ab der Übernahme auf den eintreffenden Notarzt über bzw. sobald der Telenotarzt den Einsatz verlässt.
Die Patientin stimmt der telemedizinischen Behandlung, insbesondere der Übertragung von Video- und Bilddateien zu.
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Datenschutz
Die Übertragung von Patientendaten im Wege der telenotärztlichen Behandlung stellt eine Verarbeitung von personenbezogenen Gesundheitsdaten dar und bedarf daher grundsätzlich der Einwilligung der betroffenen Patienten. Dieses Erfordernis folgt aus Art. 9 Abs. 1, Abs. 2 lit. a) Datenschutzgrundverordnung (DSGVO). Doch was ist, wenn Patienten nicht zustimmen? Im Falle der Weigerung sollte man den Patienten verdeutlichen, dass eine Einsatzübernahme ohne Zustimmung nur schwer möglich ist und eine entsprechend suffiziente Therapie damit verhindert wird. Keineswegs sollte man die Übertragung „aufstückeln“, etwa in eine reine Tonübertragung. Strenggenommen (und vor allem in den Fällen, in denen es um die Abwendung einer Lebensgefahr geht), ist eine Zustimmung aber auch gar nicht erforderlich, was unmittelbar aus Art. 9 Abs. 2 lit. h) folgt.
Aufgrund der beschriebenen Symptome bittet die Telenotärztin um eine genauere Untersuchung des Abdomens. Im Oberbauch besteht ein moderater epigastrischer Druckschmerz, insgesamt ist das Abdomen aber weich. Darmgeräusche sind ubiquitär auskultierbar; der letzte Stuhlgang war vor 3 Tagen. Die Schmerzen sind nicht kolikartig und nehmen bei Bewegung zu.
Das angeordnete und übermittelte 12-Kanal-EKG zeigt eine Sinustachykardie, Indifferenztyp, nicht-signifikante ST-Streckensenkungen in V1 bis V3. Es liegen keine PQ- oder QT-Zeit-Verlängerungen oder QRS-Komplex-Verbreiterungen vor.
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Irrtümer bei der Diagnosestellung vs. unzureichende Befunderhebung
Die (theoretisch) relevantesten Komplikationen für den Telenotarzt sind der Diagnoseirrtum/Diagnosefehler und die unterlassene Befunderhebung. Es gelten also die gleichen Maßstäbe wie für den „normalen“ Notarzt. Von einem Diagnoseirrtum spricht man, wenn Krankheitssymptome in einem bestimmten Umfang fehlgedeutet werden. Die Gerichte sind bei der Bejahung eines Diagnoseirrtums in der Regel großzügiger. In der Rechtsprechung wird nämlich anerkannt, dass die Symptome einer Krankheit wegen der Unterschiedlichkeiten des menschlichen Organismus immer auch unterschiedlich ausfallen können. Diagnoseirrtümer, also die Fehlinterpretation von erhobenen Befunden, werden erst dann zu einem Diagnose- und damit zu einem Behandlungsfehler, wenn Krankheitssymptome entgegen der Schulmedizin völlig fehlinterpretiert werden. Etwas weniger großzügig ist die Haftung im Bereich der sogenannten unterlassenen Befunderhebung. Die Medizin (und damit auch die Rechtsprechung) fordert, dass bei jedem Patienten ausreichend Befunde erhoben werden. Das bedeutet, dass in Abhängigkeit der Symptomatik und der Situation entsprechende körperliche Untersuchungen und Gerätediagnostik durchgeführt sowie eine Anamnese erhoben werden müssen. Es wird keine Überdiagnostik gefordert. Die Medizin verlangt aber, dass der Symptomatik entsprechende Befunde erhoben werden. Werden nicht alle medizinisch indizierten Befunde erhoben und erleidet der Patient dadurch einen Gesundheitsschaden, so steht eine Haftung wegen der unterlassenen Befunderhebung im Raum.
Die Telenotärztin weist nun den Notfallsanitäter an, einen peripheren Gefäßzugang zu etablieren.
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Telenotärztliche Delegation
Telenotärztliche Versorgungsstrukturen berühren zwangsläufig den rechtlichen Rahmen der Delegation, da der Telenotarzt ja schon wegen der räumlichen Distanz keine Maßnahmen an Patienten durchführen kann. Unter einer Delegation wird im Medizinrecht (vereinfacht ausgedrückt) die Übertragung von eigenen Aufgaben auf eine andere Person definiert. Die Delegation von Maßnahmen auf Notfallsanitäter ist generell erst einmal unproblematisch, solange es sich um Maßnahmen handelt, die vom Ausbildungskatalog der Notfallsanitäter umfasst sind. Ob die Maßnahmen für Notfallsanitäter dabei freigegeben sind oder nicht, spielt für die Zulässigkeit der Delegation bei Zuschaltung eines Telenotarztes keine Rolle. Voraussetzung für die Zulässigkeit einer Delegation auf Notfallsanitäter ist allerdings, dass mit der Maßnahme nicht der Kernbereich ärztlichen Handelns berührt wird. Hierunter versteht man Maßnahmen, die nur durchgeführt werden können, wenn (1) spezielles ärztliches Wissen vorherrscht, (2) nur durch spezielles ärztliches Wissen etwaige Komplikationen der Maßnahme beherrscht werden können oder (3) die Maßnahme per se so gefährlich ist, dass sie nur durch einen Arzt durchgeführt werden kann (s. Infobox). Ist der Kernbereich betroffen, so scheidet eine Delegation im Telenotarztdienst grundsätzlich aus. Eine Ausnahme kann nur in Betracht kommen, wenn die Maßnahme zur Lebensrettung oder zur Abwehr schwerer Gesundheitsschäden indiziert ist. Ist der Kernbereich nicht betroffen, so ist die Delegation zulässig.
Kernbereiche ärztlichen Handelns (in Anlehnung an die Bundesärztekammer)
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Besteht eine besondere Gefahr der Maßnahme für den Patienten?
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Bestehen besondere Schwierigkeiten bei der Durchführung?
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Sind erhebliche Komplikationen möglich?
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Setzt das Komplikationsmanagement spezielles ärztliches Wissen und Können voraus?
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Sind spezifische ärztliche Fachkenntnisse und spezielles ärztliches Fachwissen bei der Durchführung erforderlich?
Die Gerichte und die Bundesärztekammer verlangen für die Zulässigkeit einer Delegation auf nichtärztliches Personal, dass das jeweilige Personal in die Maßnahme eingewiesen wird und die Maßnahme durchführen kann. Darüber hinaus wird verlangt, dass die Maßnahmen regelmäßig stichprobenartig überprüft und auditiert werden. Im Telenotarztdienst besteht die Besonderheit, dass die Notfallsanitäter einem entsprechenden Ausbildungscurriculum unterliegen. Alle Maßnahmen, die Gegenstand der Ausbildung sind, müssen daher in der Regel nicht mehr angeleitet werden. Der Telenotarzt darf vielmehr darauf vertrauen, dass der Notfallsanitäter als Delegationsempfangender die jeweilige Maßnahme durchführen kann. Kann der Notfallsanitäter das nicht, so muss der Notfallsanitäter die Maßnahme ablehnen. Erkennt der Telenotarzt, dass der Notfallsanitäter (aus welchen Gründen auch immer) die Maßnahme nicht oder nicht ordnungsgemäß durchführen kann, so muss von der Delegation abgesehen werden.
Nach erfolgreicher Etablierung bespricht das Team die weiteren therapeutischen Maßnahmen. Es soll eine antiemetische Therapie mit 4 mg Ondansetron sowie eine Analgesie mit 1 g Metamizol als Kurzinfusion und 3 mg Morphin erfolgen.
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Aufklärung und Einwilligung
Auch im Telenotarzteinsatz gilt, dass durchzuführende Maßnahmen die Einwilligung der jeweiligen Patienten voraussetzen. Das Landgericht München II (Urt. v. 13.03.2024 – 1 O 5113/21) hat hierzu jüngst Stellung genommen und wie folgt ausgeführt: Auch notfallmedizinische Behandlungen bedürften einer Einwilligung nach vorheriger Aufklärung. Umfang und Genauigkeit der Aufklärung seien umgekehrt proportional zur Dringlichkeit und zu den Erfolgsaussichten der Behandlung. Im Notfall reduziere sich das Maß der gebotenen Aufklärung auf ein Minimum, und zwar im Sinne der ganz essenziellen Umstände, welche der Patient wissen müsse. Wenn durch den mit einer Aufklärung verbundenen Zeitaufschub erhebliche Gefahren für die Gesundheit des Patienten drohen würden, so sei eine ausführliche Aufklärung natürlich nicht angezeigt. Hinzu käme auch, das in Notfallsituation oftmals fraglich sei, in welchem Umfang der Patient überhaupt in der Lage sei, Erklärungen zu verstehen. Das Absetzen des Notrufs und die nachfolgende Entgegennahme der Behandlung stelle zugleich die konkludente Einwilligung in alle dringlich indizierten Maßnahmen dar, die der Patient nicht erkennbar ablehne, sodass es nur im Ausnahmefall einer Aufklärung bedarf.
Der Transport der Patientin gestaltet sich komplikationslos. Sie wird in die nächste geeignete Klinik, ein Haus der Grund- und Regelversorgung, verbracht. Dort erfolgt die Übergabe der Patientin an den Arzt in der Notaufnahme. Das Protokoll wird im Rettungswagen ausgedruckt und abgegeben.
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Dokumentation
§ 630f Abs. 1 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) verpflichtet den Behandelnden zur Dokumentation. Vereinzelte Rettungsdienstgesetze der Länder sehen eine ähnliche Verpflichtung vor. Die Dokumentation im Notarztdienst dient in erster Linie der Sicherheit des Patienten (therapeutische Sicherheit). Dies gilt insbesondere für das therapeutische Interesse des Patienten im Hinblick auf die später weitere Behandlung in der Klinik. Die Dokumentation soll also durch das korrekte Ausfüllen der Protokolle (egal ob papiergebunden oder digital) dazu dienen, die weitere Behandlung nach der Übergabe im Krankenhaus reibungslos zu gewährleisten. Die dortigen Mitbehandelnden müssen durch den Umfang der Dokumentation in die Lage versetzt werden, den medizinischen Zustand des Patienten zum Zeitpunkt des Rettungsdiensteinsatzes zu beurteilen. Dokumentationspflichtig sind aber nur die wichtigsten diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen. Medizinische Umstände, deren Aufzeichnung für die weitere Behandlung des Patienten nicht erforderlich sind, sind auch aus Rechtsgründen nicht dokumentationspflichtig. Mit der Übergabe des Protokolls in der Notaufnahme muss also gewährleistet sein, dass die weitere Behandlung in der Klinik reibungslos möglich ist. Unterbleibt eine solche Dokumentation, so kann in Falle eines Haftungsprozesses aus einer fehlenden, mangelhaften oder unvollständigen Dokumentation bis zum Beweis des Gegenteils unterstellt werden, dass die nicht dokumentierten Maßnahmen auch nicht durchgeführt worden sind.
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Korrespondenzadresse
Publication History
Article published online:
03 February 2025
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