intensiv 2025; 33(01): 16-21
DOI: 10.1055/a-2442-5028
Intensivpflege
Besuchende Kinder auf ITS

Besuche von Geschwisterkindern auf der Kinderintensivstation

Birte Kimmerle
,
Maria Schweizer
,
Juliane Engel
,
Felix Neunhoeffer
,
Johannes Nordmeyer
,
Laura Schröder-Lung
,
Ute Wagner
 

Sollen Kinder ihre Geschwister auf der Intensivstation besuchen? Diese Frage beschäftigt nicht nur die Eltern, sondern auch das Fachpersonal. Basierend auf einem familienorientierten Pflegeverständnis betrachten wir verschiedene Perspektiven, Forschungsergebnisse und Empfehlungen, die es für Besuche von Kindern auf pädiatrischen Intensivstationen gibt. Wir zeigen, was für die praktische Umsetzung wichtig ist.


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Wichtige Familienzeit in der Klinik. (Quelle: privat)

Familienorientierte Pflege und Einbeziehung von Geschwistern aus pflegetheoretischer Perspektive

Familienorientierung ist zu einem wichtigen Grundsatz im Pflegeberuf geworden und hat besonders in der Kinderkrankenpflege eine lange Tradition. Die Auffassung, dass Gesundheit und Krankheit nicht nur vom Individuum abhängen, sondern unter anderem im Zusammenhang mit Familie und sozialen Netzwerken gesehen werden müssen, gehört zu den unbestrittenen Grundlagen der Gesundheitswissenschaften. Auch in der Pflegewissenschaft basieren pflegetheoretische Konzepte auf dem Verständnis, dass die Familie die Gesundheit und den Genesungsverlauf wesentlich beeinflusst [1]–[5]. Von einer Krankheit ist demzufolge nicht nur das Individuum, sondern sein ganzes Bezugssystem betroffen: Dazu gehören nicht nur Eltern, sondern auch Geschwister.

Muss ein Kind auf einer pädiatrischen Intensivstation versorgt werden, bildet dies eine große Herausforderung und Belastung für das gesamte Familiensystem. Der Familienalltag verändert sich: Die Eltern sind zu Hause abwesend, weil sie ihr krankes Kind in der Klinik begleiten [6]. Häufig ist der Fokus in dieser Zeit auf das kranke Kind gerichtet, während Geschwisterkinder wenig oder gar nicht in den Blick genommen werden [6] [7].

Familienorientierte Pflege stärkt und fördert die Familie, indem sie die Bedürfnisse aller Familienmitglieder in die Pflege einbezieht [3]. In der Pädiatrie haben Eltern als Hauptbezugsperson ihrer Kinder einen besonderen Stellenwert. Sie kennen ihre Kinder am besten und sollten vom Behandlungsteam als Experten für ihre Kinder wahrgenommen werden. Dies ist ein wichtiger Grundsatz der Familienorientierung [2] [3] [8]. Doch was bedeutet Familienorientierung für die Einbeziehung von Geschwisterkindern?

Ein systemtheoretischer Ansatz, wie er der familienorientierten Pflege zugrunde liegt, bedeutet, dass die Beziehungen innerhalb der Familie sowie zu Pflegefachpersonen und weiteren begleitenden Berufsgruppen in ständiger Wechselwirkung stehen [8]. Das heißt, die Art und Weise, wie Gesundheitsfachpersonen Eltern begegnen, hat einen Einfluss darauf, wie diese ihre Kinder begleiten.

Die Entscheidung, ob und wann ein Besuch durch Geschwister sinnvoll ist und wie er erfolgreich gestaltet werden kann, ist komplex und erfordert die Berücksichtigung vieler Faktoren und Perspektiven. Wir möchten anhand der vorhandenen Evidenz ein Verständnis für die unterschiedlichen Sichtweisen sowohl von Gesundheitsfachpersonen als auch von Eltern fördern sowie Implikationen für die mögliche Gestaltung der Besuche ableiten.


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Perspektive von Gesundheitsfachpersonen

Einerseits ist es Pflegefachpersonen wichtig, Kinder als Familienangehörige in die Situation des kranken Familienmitglieds einzubeziehen, andererseits sehen sie sich jedoch mit fehlenden Zeit- und Personalressourcen konfrontiert. Das ist das Ergebnis einer Studie zu Besuchen von Kindern auf Erwachsenenintensivstationen [9]. Und obwohl mit Blick auf Richtlinien für Besuche von Kindern auf Intensivstationen ein kultureller Wandel stattgefunden hat, haben Gesundheitsfachpersonen anhaltende Bedenken in Bezug auf Kinder als Besuchende auf einer Intensivstation [6] [7] [10]. Dazu gehören vor allem das Infektionsrisiko und die zusätzliche Belastung im Arbeitsalltag [6] [7] [11]. Außerdem besteht die Sorge, Kinder könnten sich unkontrolliert oder laut verhalten, auf Knöpfe drücken oder an Kabeln ziehen [7].

Eine Multicenter-Studie von 2007 kam zu dem Ergebnis, dass die meisten Pflegenden und Ärzte Besuchen durch Kinder auf der Intensivstation positiv gegenüberstanden. Je nach Schwere der Erkrankung des Patienten, Alter des Kindes und Verwandtschaftsgrad schränkte das Fachpersonal Besuche aber auch ein [12]. Die Studie verdeutlicht, dass es sich bei Kinderbesuchen auf Intensivstationen um ein komplexes Thema handelt, zu dem bei Pflegenden und Ärzten und auch innerhalb derselben Berufsgruppen keine einheitliche Haltung besteht [12].

ERFAHRUNGSBERICHT EINER PFLEGEFACHPERSON

Wenn ein Kind auf der Intensivstation liegt, ist das für die gesamte Familie eine Ausnahmesituation und eine große Herausforderung – sowohl für die Eltern als auch für die Geschwister. Für mich als Pflegefachfrau für pädiatrische Intensivpflege ist es eine erfüllende Aufgabe, Bedingungen zu schaffen, unter denen sich eine Familie trotz dieser belastenden Umstände als Einheit erleben kann, selbst wenn dies nur für eine Stunde möglich ist. Ein besonders schönes Beispiel dafür ist ein Geschwisterbesuch, den ich begleiten durfte:

Ein Neugeborenes mit einem schweren Herzfehler lag vor seiner ersten Operation spontan atmend im Gitterbett. Der vier Jahre alte Bruder setzte sich im Schneidersitz ans Fußende des Bettes und war ganz begeistert davon, die Kopfhörer auszuprobieren, die wir aus Datenschutzgründen an jedem Bettplatz bereitstellen. Seine sechs Jahre alte Schwester saß im Schneidersitz am Kopfende und hielt das neugeborene Geschwisterchen behutsam auf dem Arm. Die Eltern standen jeweils an einer Bettseite, und in diesem Moment wirkte die Familie auf mich wie auf einer Insel – auf ihrer eigenen Familieninsel.

Um nachhaltig familienorientiert zu arbeiten und Kinderbesuche zur Selbstverständlichkeit werden zu lassen, müssen Überzeugungen und Annahmen im Team kritisch reflektiert sowie Forschungsergebnisse recherchiert und aufbereitet werden. Dafür sind zeitliche und personelle Ressourcen erforderlich [9] [13]. Teilweise beruhen geäußerte Standpunkte und Bedenken von Pflegefachpersonen und von Ärzten gegenüber Besuchen von Kindern auf Intensivstationen nicht auf wissenschaftlichen Erkenntnissen [10]. Es gibt jedoch wenige aktuelle Untersuchungen, etwa zur Frage, ob sich das Infektionsgeschehen durch Kinderbesuche auf Intensivstationen ändert oder wie sich die Besuche konkret auf den Gesundheitszustand des behandelten Kindes sowie des Geschwisterkindes auswirken, und zu gesundheitlichen Konsequenzen, wenn Besuche nicht stattfinden.


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Elternperspektive

Was Eltern auf der Kinderintensivstation erleben, kann sich potenziell traumatisierend auswirken [14]. Entsprechend haben Eltern die Sorge, das Geschwisterkind mit einem Besuch zu überfordern oder es einer traumatisierenden Situation auszusetzen [7] [15]. Aus der Furcht heraus, ihre Kinder damit zu ängstigen, kommt es vor, dass Eltern Informationen zurückhalten. Ein Mangel an Informationen kann sich jedoch ebenfalls negativ auf die Fähigkeit des Kindes auswirken, mit der Hospitalisierung seines Bruders oder seiner Schwester umzugehen [11].

Um die Bedenken von Eltern hinsichtlich der Besuche ihrer Kinder auf der Kinderintensivstation zu adressieren, ist es wichtig, die Eltern zu begleiten und in ihrer Rolle als wichtigste Bezugsperson sowie in ihrer elterlichen Kompetenz zu stärken [16]. Ein informierendes und vorbereitendes Gespräch vor dem Besuch des Geschwisterkindes kann dazu dienen, auf Fragen, Sorgen und Ängste der Eltern einzugehen [1]. In diesem Gespräch muss klar werden, dass Kinder nicht zu Besuch kommen müssen [16] und dass Eltern ihre Meinung (etwa durch Veränderungen im Behandlungsverlauf) jederzeit ändern können. Als Experten für ihre Kinder müssen Eltern in ihrer Einschätzung ernst genommen werden. Sollten die Eltern nach dem Vorgespräch keine Besuche des Geschwisterkindes wünschen, sollte dies ohne Bewertung akzeptiert werden, das Angebot aber weiterhin bestehen.

ERFAHRUNGSBERICHT EINER MUTTER

Wir hatten Bedenken bezüglich des richtigen Zeitpunkts für einen Besuch der Geschwister, obwohl sie immer wieder gefragt hatten, wo ihr Bruder ist. Da beide noch recht klein waren, wollten wir sie nicht überfordern oder ängstigen. Hier halfen uns der Zuspruch und die Mithilfe der Pflegekräfte sehr.

Anfänglich dachten wir, dass ein Besuch besser auf der Normalstation stattfinden sollte. Leider verschlechterte sich die Situation unseres Sohnes, sodass ein Besuch auf der Intensivstation unumgänglich wurde. Ein Besuch erschien uns immer wichtiger.

Der erste Schritt war, die Geschwisterkinder mit einem Foto auf die Situation vorzubereiten, um auszuloten, wie sie damit umgehen würden. Diese Idee der Pflegekräfte nahm uns die Angst, die Kinder noch mehr zu traumatisieren. Der Besuch selbst lief erstaunlich reibungslos. Die Pflegekräfte hatten alles super vorbereitet und bestimmte Dinge abgedeckt. Die Geschwister freuten sich, ihren Bruder zu sehen, waren aber nach kurzer Zeit abgelenkt und nahmen die grausamen Details nicht wahr. Das war für uns sehr erleichternd, und wir waren froh, dass sie hallo sagen konnten. Nachdem dies so gut geklappt hatte, besuchten die Geschwister ihn immer wieder mal. Das tat uns allen sehr gut, wenigstens für ein paar Momente als Familie alle zusammen zu sein.

Unser Dank gilt allen Pflegekräften, die jeden Besuch der Geschwister speziell gestaltet haben.

Altersgerechte Informationen über den Zustand des erkrankten Geschwisterkindes können Angstsymptome verringern [19]. Die Inhalte des Vorgesprächs könnten den Grund des Krankenhausaufenthalts, die medizinischen Geräte, die tägliche Routine im Krankenhaus und die voraussichtliche Dauer des Aufenthalts umfassen [19]. Dabei sollten die Bedürfnisse und das Verständnis des Geschwisterkindes im Vordergrund stehen [16] (Besuchsvorbereitung).

BESUCHSVORBEREITUNG

Kinder müssen individuell und altersgerecht auf den Besuch vorbereitet und begleitet werden [6] [17]. Das Verständnis von Gesundheit und Krankheit variiert stark in den verschiedenen Entwicklungsphasen von Kindern [6] [18]. Vorschulkinder zeigen häufig ein starkes magisches Denken und können irrationale Verknüpfungen herstellen, während ältere Kinder zunehmend in der Lage sind, einen direkten Zusammenhang zwischen Krankheitsursachen und -wirkungen zu erkennen [18]. Gesundheitsfachpersonen und Eltern sollten daher flexibel und sensibel auf die spezifischen Fragen, Ängste und Bedürfnisse des Geschwisterkindes eingehen und sich nicht ausschließlich an festen Altersstufen orientieren [16].

CAVE

Die Vorbereitung und Durchführung des Besuchs richten sich individuell nach den Bedürfnissen und dem Entwicklungsstand des Kindes.


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Forschung zu Geschwisterkindern: Geschwisterperspektive

Familien im Umgang mit Gesundheit und Krankheit zu erforschen, ist eine wichtige Aufgabe der Pflegewissenschaft, um forschungsbasiert Interventionen für die professionelle Pflege zu entwickeln [20]. Die Pflegeforschung steht hier in Deutschland noch am Anfang [21] und es gibt kaum Daten, die sich auf Geschwister kritisch kranker Kinder beziehen [11] [22]. Einzelne pflegewissenschaftliche Untersuchungen beschäftigen sich mit Kindern im Umgang mit kranken oder pflegebedürftigen Familienangehörigen, beispielsweise mit Geschwisterkindern chronisch kranker Kinder [23] oder mit Kindern als pflegende Angehörige [24].

Beziehungen zwischen Geschwistern sind die längsten, die ein Mensch im Lauf seines Lebens hat. Studien zu Besuchen von Geschwistern chronisch kranker Kinder [25] oder Neugeborener auf neonatologischen Stationen [26] berichten von möglichen Vorteilen sowohl für die erkrankten Kinder als auch für ihre Geschwister. Studien zu Geschwisterbesuchen auf Kinderintensivstationen untersuchten das Erleben der gesunden Geschwister mittels Interviews [27] [28]. Durch die geringen Stichprobengrößen ist es jedoch schwierig, die verschiedenen Studienergebnisse zu vergleichen. In Einzelaussagen von Kindern und Jugendlichen, die ein Geschwisterkind auf der Kinderintensivstation besucht haben, wurden auch negative Erfahrungen berichtet. Diese müssen jedoch nicht zwangsläufig gegen einen Besuch sprechen, denn es fehlen zum Beispiel Daten, wie es Kinder erleben, wenn sie ihre Geschwister nicht auf der Kinderintensivstation besuchen können. Studienergebnisse legen nahe, dass die Vorstellung von der Situation häufig schlimmer ist als die Realität, besonders dadurch, dass Kinder fehlende Sachinformationen mit ihrer Fantasie ausfüllen [6] [7] [9].

Die Forschung lässt weiterhin viele Fragen offen. Wie beeinflusst es die Beziehung oder den Beziehungsaufbau, wenn Kinder ihren kranken Bruder oder ihre kranke Schwester nicht besuchen dürfen? Von Geschwistern wird möglicherweise erwartet, eigene Bedürfnisse zurückzustellen und Rücksicht auf die herausfordernde Situation zu nehmen. Manche Kinder kennen ihr neu geborenes Geschwisterchen nur von Fotos. Wie wird wiederum ein Besuch auf der Kinderintensivstation vom Geschwisterkind erlebt? Welche Auswirkungen hat es, wenn Kinder zu Besuch waren? Was beschäftigt sie vor und nach dem Besuch und währenddessen? Und welchen Einfluss hat der Besuch auf das kritisch kranke Kind? Die Beantwortung dieser Fragen ist wichtig, um zu verstehen, wo angesetzt werden muss, um möglichen negativen Konsequenzen entgegenzuwirken und die Erfahrung für alle Beteiligten positiv zu gestalten. Empirische Untersuchungen sind notwendig, um die Perspektive von Geschwisterkindern besser zu verstehen und angemessene Unterstützungsangebote zu entwickeln.


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Praktische Umsetzung: Empfehlungen und Chancen

Damit nicht von persönlichen Ansichten des zuständigen Behandlungsteams abhängt, ob ein Kind seine Schwester oder seinen Bruder besuchen darf oder nicht, sollten basierend auf bestehenden Empfehlungen flexible, evidenzbasierte Konzepte Anwendung finden [17]. In der Leitlinie des American College of Critical Care Medicine und der Society of Critical Care Medicine wurden bereits 2017 Empfehlungen für die Unterstützung von Familien kritisch kranker Patienten auf Intensivstationen gegeben, unabhängig davon, ob es sich dabei um neonatologische, pädiatrische Intensivstationen oder Erwachsenenintensivstationen handelt [4]. Analog gibt es inzwischen auch Empfehlungen der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) für Besuche von Kindern auf der (Kinder-)Intensivstation, an denen sich Praxiskonzepte orientieren können [16]. Ein mit dem Stationsteam partizipativ und interprofessionell entwickeltes Konzept soll ermöglichen, die unterschiedlichen skizzierten Perspektiven mit dem Stationsalltag in Einklang zu bringen und einen einheitlichen Umgang mit Geschwisterbesuchen zu gewährleisten. Pflegefachpersonen sollten bei Geschwisterbesuchen sowohl emotionale als auch strukturelle Unterstützung erfahren [2].

Wir sehen folgende Chancen für interprofessionell gestaltete Geschwisterkinderbesuche:

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Besuch der großen Schwester am Klinikbett: Das Neugeborene war noch nie zu Hause. (Quelle: privat)
  • Entlastung im Pflegealltag: Um die Pflegefachpersonen zu entlasten, können Geschwisterkinderbesuche auch von anderen Mitgliedern des Behandlungsteams, etwa von Psychologinnen, begleitet werden. Das bietet die Chance, Geschwisterbesuche unabhängig von den zeitlichen Kapazitäten und der aktuellen Arbeitsbelastung der Pflege zu ermöglichen.

  • Reduktion von Unsicherheiten: Durch die Festlegung eines klaren Ablaufs und fester Ansprechpersonen wird definiert, an wen sich Pflegefachpersonen für die Organisation, Begleitung oder Unterstützung bei Gesprächen mit den Eltern oder der Durchführung des Besuchs wenden können, sollten sie selbst nicht die Zeit dafür haben.

  • Ermöglichung von Familienzeit: Wenn Eltern zu Geschwisterkinderbesuchen ermutigt und durch Gesprächs- und Begleitangebote in ihren eigenen Bedenken und Fragen ernst genommen und unterstützt werden, entwickeln sie das Vertrauen, ihre Kinder gut zu begleiten. Familie-Sein oder auch Familie-Werden soll durch den Aufenthalt auf der Kinderintensivstation nicht verhindert werden.

Die DIVI empfiehlt, die Abläufe für Geschwisterbesuche an die individuellen strukturellen und personellen Gegebenheiten der Intensivstation anzupassen [16]. Wenn die Abläufe flexibel gestaltet werden können, ist es möglich, auch bei ungeplanten Besuchen auf festgelegte Regeln und Zuständigkeiten zurückzugreifen. So kann die betreuende Pflegefachperson bei Bedarf weitere Mitglieder des Behandlungsteams zur Unterstützung des Geschwisterkindes hinzuziehen. Auf einer Intensivstation gibt es jedoch auch Situationen, die für einen Besuch ungünstig oder unpassend sind [29], zum Beispiel wenn im selben Zimmer ein Kind nach einer Operation aufgenommen wird oder ein Kind in einem benachbarten Bett nicht zur Ruhe kommen kann. Es muss daher immer möglich sein, flexibel und situationsgerecht zu entscheiden, ob ein Besuch verschoben oder abgesagt wird. Einzelzimmer erleichtern die individuelle Begleitung von Familien mit einem kritisch kranken Kind.

Eine weitere Möglichkeit, um Hemmungen abzubauen und Bedenken entgegenzuwirken, die in diesem Prozess dringend empfohlen wird, ist die Schulung des Personals und der Familienmitglieder, um fundierte Entscheidungen zu ermöglichen, die das Wohl der Kinder und ihrer Eltern fördern [9] [13] [17]. Schulungsinhalte für das Behandlungsteam zur Familienorientierung im Allgemeinen sowie zur Auswirkung von Besuchen durch Familienmitglieder können die Akzeptanz für die Anwesenheit von Geschwistern unterstützen [16] [27]. Es wird beispielsweise empfohlen, Rollenspiele und Maßnahmen zur Förderung des Verständnisses zu nutzen, um die Besuche von Geschwisterkindern möglichst positiv zu gestalten [27]. Raum für Bedenken und Austausch muss eingeräumt werden. Wichtig ist, das Konzept immer wieder an neue Gegebenheiten anzupassen.

Besuchsregelungen auf der Kinderintensivstation sind nicht nur organisatorische Vorgaben und Vereinbarungen, sondern auch eine Frage der Haltung der Gesundheitsfachpersonen. Regelungen allein schaffen keine familienfreundliche Atmosphäre, vielmehr geht es darum, was im Alltag tatsächlich gelebt wird. Trotz womöglich noch ungeklärter Haltungsfragen können bereits niedrigschwellige und einfach umsetzbare Maßnahmen – wie flexible Anwesenheitszeiten für Eltern, die Bereitstellung von Spielsachen oder die Einbindung von Geschwistern in die Pflege – ergriffen werden. Diese kleinen Schritte signalisieren, dass die Bedürfnisse der gesamten Familie ernst genommen werden, und schaffen eine unterstützende Umgebung. Das Ziel ist, den Weg zu einer familienfreundlichen Intensivstation zu ebnen, auf der sich alle Beteiligten wohlfühlen: sowohl die Familien als auch das Personal.

Vor dem Hintergrund der theoretischen Grundsätze der Familienorientierung sowie der wenigen vorhandenen Übersichtsarbeiten zu Kinderbesuchen auf Intensivstation, die größtenteils älter sind oder sich nicht auf die Pädiatrie beziehen, gehen wir davon aus, dass sowohl die besuchenden Kinder als auch das kranke Kind, insbesondere wenn es wach und ansprechbar ist, von den Besuchen profitieren [6] [10] [13] [19] [25]–[31]. Weitere Forschung wäre wünschenswert, um diese Annahme zu bestätigen und zu zeigen, dass Besuche von Kindern auf der Kinderintensivstation für die ganze Familie und alle Beteiligten einen positiven Effekt haben.

FAZIT

Besuche von Geschwisterkindern auf der Kinderintensivstation sollten stärker in den Fokus von Praxis und Forschung gerückt werden. Eine offene Auseinandersetzung mit dem Thema und Anpassung vorhandener Empfehlungen an stationseigene Gegebenheiten sind unerlässlich. Damit allen Familien ein Geschwisterbesuch angeboten werden kann, sollten Konzepte entwickelt und evaluiert werden, die es ermöglichen, flexibel die individuellen Bedürfnisse der Kinder in der jeweiligen Situation zu berücksichtigen.


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Autorinnen/Autoren

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Dr. Birte Kimmerle
Ph.D. Pflegewissenschaft, Dipl.-Pflegewirtin (FH); Gesundheits- und Kinderkrankenpflegerin auf der Kinderintensivstation am Universi- tätsklinikum Tübingen, Klinik für Kinder- und Jugendmedizin, Kinderheilkunde II – Kardiologie, Intensivmedizin und Pulmologie
E-Mail: Birte.Kimmerle@med.uni-tuebingen.de

Maria Schweizer MSc
Psychologin auf der Kinderintensivstation am Universitätsklinikum Tübingen, Klinik für Kinder- und Jugendmedizin, Kinderheilkunde II – Kardiologie, Intensivmedizin und Pulmologie
E-Mail: Maria.Schweizer@med.uni-tuebingen.de

Dr. med. Juliane Engel
Ärztin auf der Kinderintensivstation am Universitätsklinikum Tübingen, Klinik für Kinder- und Jugendmedizin, Kinderheilkunde II – Kardiologie, Intensivmedizin und Pulmologie

Prof. Dr. Felix Neunhoeffer
Sektionsleiter Kinderintensivstation, Abteilung Kinderheilkunde II – Kardiologie, Intensivmedizin und Pulmologie, Klinik für Kinder- und Jugendmedizin Tübingen

Prof. Dr. Dr. med. Johannes Nordmeyer, MHBA
Ärztlicher Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin, Abteilung Kinderheilkunde II – Kardiologie, Intensivmedizin und Pulmologie, am Universitätsklinikum Tübingen

Laura Schröder-Lung
BSc Gesundheitspsychologie; Gesundheits- und Krankenpflegerin am Universitätsklinikum Tübingen, Klinik für Kinder- und Jugendmedizin, Kinderheilkunde II – Kardiologie, Intensivmedizin und Pulmologie

Ute Wagner
Pflegefachfrau für pädiatrische Intensivpflege auf der Kinderintensivstation am Universitätsklinikum Tübingen, Klinik für Kinder- und Jugendmedizin, Kinderheilkunde II – Kardiologie, Intensivmedizin und Pulmologie

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Publication History

Article published online:
03 January 2025

© 2025. Thieme. All rights reserved.

Georg Thieme Verlag KG
Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany

  • Literatur

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Dr. Birte Kimmerle
Ph.D. Pflegewissenschaft, Dipl.-Pflegewirtin (FH); Gesundheits- und Kinderkrankenpflegerin auf der Kinderintensivstation am Universi- tätsklinikum Tübingen, Klinik für Kinder- und Jugendmedizin, Kinderheilkunde II – Kardiologie, Intensivmedizin und Pulmologie
E-Mail: Birte.Kimmerle@med.uni-tuebingen.de
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Wichtige Familienzeit in der Klinik. (Quelle: privat)
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Besuch der großen Schwester am Klinikbett: Das Neugeborene war noch nie zu Hause. (Quelle: privat)