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DOI: 10.1055/a-2342-0347
Meine Anteilnahme – Deine Sensationslust? Motivzuschreibungen für das Zuschauen an Notfalleinsatzorten unterliegen dem fundamentalen Attributionsfehler
My Sympathy – Your Desire for Sensation? The Fundamental Attribution Error Shapes Attributions of Motives for RubberneckingSupported by: Johanniter-Unfall-Hilfe e.V. (JUH) 73315
- Zusammenfassung
- Abstract
- Einleitung
- Hintergrund und Fragestellung
- Studiendesign und Stichprobe
- Ergebnisse
- Diskussion
- Limitationen
- Fazit
- Einhaltung ethischer Richtlinien
- Literatur
Zusammenfassung
Hintergrund
Um zu erklären, warum Menschen an Unglücksorten zusehen, werden bisher auf theoretischer Basis biologische, individual- und sozialpsychologische Motive herangezogen. Empirische Untersuchungen in rettungsmedizinischen Kontexten fehlen bislang.
Ziel der Arbeit
In diesem Artikel werden anderen zugeschriebene Beweggründe für das Zuschauen an Einsatzorten erhoben. Zusätzlich wird ermittelt, wie viele Personen qua Selbstauskunft bereits bei Rettungsmaßnahmen zugesehen haben und was die eigenen Beweggründe dafür waren. Diese Beweggründe werden gegenübergestellt und mit bestehenden theoretischen Annahmen abgeglichen.
Methodik
Studie 1 – repräsentative Bevölkerungsbefragungen (t1 n = 1032, t2 n = 1012) im Abstand eines Jahres zu eigenem Zuschauen und Beweggründen bzw. jenen anderer. Studie 2 – Gelegenheitsstichprobe (n = 40) zur Bewertung der in Studie 1 ermittelten Beweggründe.
Ergebnisse und Diskussion
Die Mehrheit der Befragten verneint, selbst an Einsatzorten zugesehen zu haben (t1: 80,1%, t2: 86,9%). Zu t2 berichten 131 Personen (12,95%) von eigenem Zuschauen und nennen ihre eigenen Beweggründe dafür. Insgesamt entsprechen diese weitestgehend den in der notfallpsychologischen Literatur postulierten Motiven. Die Beweggründe anderer werden überwiegend dispositional und abwertend ausdrückt. Dagegen werden eigene Beweggründe stärker selbstwertdienlich und situational formuliert. Die Daten werden vor dem Hintergrund des fundamentalen Attributionsfehlers diskutiert.
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Abstract
Background
To explain why people stand by and watch at the scene of an accident, scholars have drawn on motives from biology, individual and social psychology on a theoretical basis. However, empirical evidence to support these theories in specific paramedic contexts is still missing.
Objectives
In this article, we explore own and others’ motives for watching at emergency sites (also known as “rubbernecking”) and compare them with existing theoretical assumptions. In addition, we collect data on how many people reported to have watched rescue operations themselves.
Material and Methods
Study 1 – two representative population surveys (t1 n = 1032, t2 n = 1012) about own and others’ motives to attend emergency sites. Study 2: Online survey (n = 40) for the assessment of the motives identified in Study 1.
Results and Discussion
The majority denied having watched at the deployment sites themselves (t1: 80.1%, t2: 86.9%). At t2, 131 persons (12.95%) reported doing so and stated their reasons. These can be compared with reasons attributed to others (t1). Overall, these largely correspond to the motives postulated in the emergency psychology literature. Motives attributed to others are predominantly expressed in dispositional, derogatory terms. In contrast, those participants who had observed emergency operations themselves attribute their own behavior to the situation in a self-serving way. This article discusses these findings in light of the fundamental attribution error.
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Schlüsselwörter
fundamentaler Attributionsfehler - Motive - Rettungseinsatz - Schaulust - ZuschauendeKeywords
disaster photography - fundamental attribution error - motives - rescue operation - rubberneckingEinleitung
Was bewegt Menschen dazu, bei Notfalleinsätzen zuzusehen oder Bildmaterial zu erstellen? Kürzlich wurden biologische, individualpsychologische und sozialpsychologische Motive postuliert [1], um „Zuschauen“ an Unglücksorten – d. h. das Beobachten des Geschehens, das Ansprechen von Rettungsdienstpersonal oder auch das Anfertigen von Bildmaterial durch unbeteiligte Dritte – differenziert zu erklären ([Abb. 1]). Empirische Untersuchungen zu diesen theoretischen Annahmen sind bislang noch nicht durchgeführt worden. Unterscheiden sich Angaben dazu je nachdem, ob das eigene Zuschauen oder jenes anderer begründet werden soll? Der vorliegende Artikel widmet sich dieser Forschungslücke mit 2 aufeinander aufbauenden Studien.


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Hintergrund und Fragestellung
Der Notfall, in dem Rettung möglich ist und auch erfolgt, kann als eine soziale Situation gelten [2]. Kultur- und epochenübergreifend sehen Menschen hin und zu, wenn ein außergewöhnliches Ereignis bzw. ein Unglück geschieht [3] [4] [5] [6]. Dafür bestehen unterschiedlichste Beweggründe, die sich präzise differenzieren lassen. Im Erklärungsmodell für Zuschauen an Einsatzorten von Karutz [1] stehen biologische Motive wie die Nutzung von Sinnesorganen, die reflexhafte Orientierungsreaktion sowie die Sorge um die eigene Art an erster Stelle möglicher Erklärungsansätze (s. [Abb. 1]). An zweiter Stelle stehen individualpsychologische Motive: Neugier, Lern- und Sicherheitsbedürfnis, Lustgewinn, Bewältigung sowie die Suche nach Abschluss. An dritter Stelle werden sozialpsychologische Motive herangezogen: kollektive Fehlinterpretation, pluralistische Ignoranz, das Zugehörigkeitsbedürfnis, die Bildung einer sozialen Gegenwelt sowie positive Verstärkung [1].
Empirisch sind zu diesen Motiven noch keine Daten erhoben worden (aber siehe [7]). Wie werden Beweggründe von Menschen wahrgenommen, die nicht professionell bei Notfalleinsätzen beschäftigt sind, dort aber zusehen? Bestätigen oder widerlegen deren offene Nennungen die theoretischen Kategorien des Modells? Wie viele Personen haben bereits selbst bei notfallmedizinischen Einsätzen zugesehen, und aus welchen Gründen haben sie dies getan? Die vorliegende Studie widmet sich diesen Fragen und prüft, inwieweit die Beweggründe, die anderen zugeschrieben werden, von eigenen Beweggründen für das Zuschauen bei Rettungsmaßnahmen abweichen.
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Studiendesign und Stichprobe
Studie 1
Im Rahmen der ersten Untersuchung wurden insgesamt n = 1032 nach einem systematischen Zufallsverfahren ausgewählte Personen ab 18 Jahren in der Bundesrepublik Deutschland (BRD) befragt. Diese erste Erhebung (t1) wurde vom 5. bis zum 10. August 2021 mithilfe des repräsentativen Online-Befragungspanels forsa.omninet durchgeführt. Exakt 12 Monate später – vom 5. bis zum 10. August 2022 – folgte die zweite analog durchgeführte Erhebung (t2) mit n = 1012. Forsa.omninet folgt den Maßgaben des einschlägigen deutschen und europäischen Datenschutzrechts. Im hier vorliegenden Kontext wurden keine personenbezogenen Daten erhoben. Die Erhebung im anonymen Onlineformat hat den Vorteil, dass die Teilnehmenden eher geneigt sind, sich zu moralisch heiklen Themen, insbesondere das eigene Verhalten betreffend, wahrheitsgemäß und weniger sozial erwünscht zu äußern.
t1 – Beweggründe anderer
Zu t1 wurden die Teilnehmenden in folgender Form befragt:
„Manchmal hört oder liest man davon, dass Personen bei Rettungseinsätzen, z. B. von Notarzt oder Feuerwehr, stehen bleiben, zusehen und teilweise auch Fotos oder Videos vom Geschehen machen. Was glauben Sie: Was sind die Beweggründe dieser Personen dafür?“
Hier konnten die Teilnehmenden (n = 1032) sodann frei ihre Antwort notieren.
Anschließend wurde eigenes Zuschauen an Einsatzorten abgefragt. In t1 lautete das entsprechende Item:
„Haben Sie selbst schon einmal bei einem Rettungseinsatz zugesehen?“
Sodann war eine Antwort folgender Art möglich:
(Mehrfachnennung)
-
ja, aus einiger Entfernung zugeschaut
-
ja, unmittelbar am Einsatzort zugeschaut
(Einfachnennung)
-
nein
-
weiß nicht
-
keine Angabe
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t2 – eigene Beweggründe
In t2 wurde den Teilnehmenden (n = 1012) die äquivalente Frage wie zu t1 in folgender Form gestellt.
Diejenigen Teilnehmenden (n = 131), die daraufhin angaben, bereits einmal zugesehen zu haben, erhielten die offen gestellte Folgefrage nach den eigenen Beweggründen hierfür.
Auf diese Frage konnten die Personen sodann ihre individuelle Antwort notieren.
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Studie 2
Um zu testen, welche Unterschiede bezüglich der Wertung der genannten Beweggründe bestehen, schloss sich eine weitere quantitative Studie an. Sämtliche in den offenen Nennungen aus Studie 1 ermittelten Kategorien der bei anderen vermuteten (t1) oder selbst berichteten (t2) Beweggründe zum Zuschauen an Einsatzorten wurden in eine Befragung auf der Plattform SoSci-Survey überführt. In einer Gelegenheitsstichprobe (N = 40) wurden die 21 Beweggründe aus Studie 1 im Zeitraum vom 30.08.2023 bis 30.09.2023 mit folgender Fragestellung präsentiert:
„Folgende Beweggründe, bei Rettungseinsätzen zuzuschauen, zu filmen oder zu fotografieren, wurden genannt. Wie bewerten Sie diese auf der untenstehenden Skala? Antworten Sie bitte ganz spontan. Es gibt kein ‚richtig‘ oder ‚falsch‘.“
Dabei bildete im Fragebogen jeder aus Studie 1 ermittelte Beweggrund ein eigenes Item, zu dem jeweils die Antwortmöglichkeiten
-
negativ-abwertend
-
positiv-wohlwollend
-
weiß nicht
zur Auswahl standen.
Die Items wurden in zufälliger Reihenfolge präsentiert. Der Link zur Onlinebefragung wurde über das CampusWeb einer Hochschule für angewandte Wissenschaften (HAW) verbreitet.
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Ergebnisse
Studie 1
t1 – Deine Sensationslust
Die offenen Antworten der n = 1032 zu t1 Befragten über angenommene Gründe anderer Personen für das Zuschauen bei Rettungseinsätzen wurden in inhaltliche Kategorien zusammengefast: mehrheitlich (46%) nehmen die Teilnehmenden an, dass Personen, die Rettungseinsätze beobachten oder Fotos bzw. Videos vom Geschehen anfertigen, aus Sensationslust handeln. Ein mit einem Drittel (33%) weiterer großer Teil der Befragten vermutet, dass das Motiv dieser Personen Neugier ist. Knapp ein Viertel der befragten Personen (23%) äußert, dass das Bedürfnis nach Geltung und Selbstprofilierung eine Rolle spielt. Dies könne dadurch befriedigt werden, dass die zuschauenden Personen im Nachgang anderen von ihren Erlebnissen berichten oder das Bildmaterial über diverse Soziale Medien teilen.
12% der Teilnehmenden schätzen, dass es Menschen, die Rettungseinsätze beobachten, fotografieren oder filmen, an Empathie, Respekt, Anstand, guter Erziehung oder sozialer Kompetenz mangelt. Dummheit bzw. geringe Intelligenz nennen 11 % der Befragten als Erklärung. Weitere Nennungen, kleiner als 10%, sind Panel A in [Tab. 1] zu entnehmen.
Unter den zu t1 Befragten teilen 15,5% mit, bereits selbst schon aus einiger Entfernung bei Rettungseinsätzen zugesehen zu haben. Rund 4% berichten, dies unmittelbar am Einsatzort getan zu haben (s. [Abb. 2]). Die überwiegende Mehrheit (80%) gibt an, noch nie bei einem Rettungseinsatz zugesehen zu haben.


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t2 – Meine Anteilnahme
Zu t2 geben 12,1% der Befragten aus der Gesamtstichprobe (n = 1012) an, schon einmal bei einem Rettungseinsatz unmittelbar am Einsatzort zugesehen zu haben (s. [Abb. 2]). Im Rahmen der Mehrfachnennung berichten dabei 1% der Befragten, dies unmittelbar am Einsatzort getan zu haben. Zu t2 teilen mit rund 87% im Vergleich zu t1 (rund 80%) etwas mehr Personen mit, noch nie an einem Einsatzort zugesehen zu haben.
Auf die Frage bezüglich der eigenen Beweggründe an diejenigen (n = 131), die zu t2 erklären, bei einem Einsatz zugesehen zu haben, gaben 36% dafür Neugier/allgemeines Interesse an (s. [Tab. 1], Panel B). Knapp ein Viertel (24%) der Befragten begründen ihr Verhalten durch Anteilnahme, bzw. durch den Wunsch, herauszufinden, ob sie helfen können. 14% beschreiben, ein Zuschauen sei unvermeidlich gewesen, da der Unfall direkt auf ihrem Weg passiert sei bzw. den Weg versperrt habe. 13% berichten, persönlich von dem Rettungseinsatz betroffen gewesen zu sein, beispielsweise, weil der Einsatz in der unmittelbaren Nachbarschaft erfolgte oder sie die notfallmedizinisch versorgten Personen kannten. 12% stellen klar, aus Interesse an dem technischen Equipment bzw. an der Arbeitsweise des Rettungsdienstes zugesehen zu haben. Auch hier sind weitere Nennungen, kleiner als 10%, [Tab. 1] (Panel B) zu entnehmen.
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Studie 2
Die Verteilung der Antworten der n = 40 Teilnehmenden hinsichtlich der Einordnung der n = 21 Beweggründe in positiv-wohlwollend, negativ-abwertend oder weiß nicht ist [Abb. 3] zu entnehmen (grün markiert die positiv-wohlwollenden Wertungen, rot die negativ-abwertenden). Betrachtet man die gemittelten Prozentsätze aller präsentierten Beweggründe insgesamt, ergeben sich folgende Einschätzungen: 27,6% positiv-wohlwollend, 53,8% negativ-abwertend und 18,6% weiß nicht. Werden nun die Beweggründe nach ihrer Ableitung aus t1 und t2 in Studie 1 gruppiert (s. [Abb. 3], getrennt dargestellt durch die gestrichelte Linie) ergeben sich folgende Abweichungen von diesem gemittelten Wert: Die Beweggründe aus t1 („andere“) weisen eine Abweichung von −14% für positiv-wohlwollend, +17,4% für negativ-abwertend und −3,4% für weiß nicht auf, während diese Werte für die („eigenen“) Beweggründe aus t2 (Item Instinkt/Reflex hier nochmals inkludiert, da in Studie 1 zu beiden Zeitpunkten genannt) bei +24,6% für positiv-wohlwollend, −30,6 für negativ-abwertend und +6,1% für weiß nicht liegen.


Die Beweggründe aus t1, die anderen zugeschrieben wurden, werden demnach von den Befragten insgesamt stärker negativ-abwertend (71,2% zu 13,7% positiv-wohlwollend) eingeschätzt als die eigenen Beweggründe aus t2 (23,1% zu 52,2% positiv-wohlwollend).
Bei den Kategorien Neugierde aus t1 und Neugierde/Interesse allgemein aus t2 fällt auf: In der ersten Version wählen 10% weniger Personen positiv-wohlwollend als in der Letzteren.
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Diskussion
Eigenes Zuschauen an Einsatzorten
Mehrheitlich verneinen die Befragten, selbst bereits bei Notfalleinsätzen zugesehen zu haben (vgl. [Abb. 2]). Dies war aus Gründen der sozialen Erwünschtheit erwartbar. Vor diesem Hintergrund ist es bemerkenswert, dass immerhin 15,5% (t1) bzw. 12,1% (t2) der Teilnehmenden ein Zuschauen aus der Entfernung angeben. Tatsächlich zeigt sich empirisch, dass bei gut sichtbaren Notfällen im Straßenverkehr das Hin- und Zuschauen eine normale Reaktion [3] und durch die entsprechenden Warnfarben der BOS-Einsatzmittel auch durchaus gewünscht ist [8], da dieses Sich-Zuwenden erste Hilfe initiiert [2].
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Zugeschriebene und eigene Beweggründe im Vergleich
Bezüglich der Beweggründe zum Zuschauen bei Rettungseinsätzen wurde in Studie 1 zu t1 nach den vermuteten Gründen von anderen Personen gefragt, in t2 wurden hingegen die eigenen Gründe erfragt. Studie 2 zeigt, dass die zu t1 erhobenen Beweggründe bezüglich der moralischen Valenz insgesamt stärker negativ-abwertend empfunden werden als die Beweggründe aus t2, die hingegen eher positiv-wohlwollend eingeschätzt werden. Dieser Trend zeigt sich bereits an den häufigsten Nennungen aus Studie 1: Sensationslust (46%) zu t1 wird überwiegend negativ-abwertend (92,5%) bewertet. Anteilnahme/Hilfsbereitschaft (24%) zu t2 wird überwiegend positiv-wohlwollend (72,5%) wahrgenommen. Bei Neugier bzw. Neugier/Interesse, die zwar beide überwiegend negativ-abwertend bewertet werden, zeigt sich dennoch in der Formulierung zusammen mit dem Begriff „Interesse“ eine höhere Anzahl an positiv-wohlwollenden Einschätzungen. Zudem gibt zu t2 niemand von sich selbst an, z. B. aus Dummheit, Anstandslosigkeit oder Sensationsgier zugesehen zu haben. Umgekehrt fehlen zu t1 vollkommen jene wohlwollend formulierten Beweggründe wie z. B. Anteilnahme/Hilfsbereitschaft, persönliche Betroffenheit oder berufliches Interesse bzw. Beteiligung.
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Passung mit notfallpsychologischem Modell
Um die Passung mit dem notfallpsychologischen Modell von Karutz [1] grafisch einzuordnen, wurden die in Studie 1 erhobenen Beweggründe in [Abb. 4] über das ursprüngliche Modell ([Abb. 1]) gelegt. Insgesamt die meisten Bewegründe lassen sich in die Kategorie „individualpsychologische Motive“ einordnen. Hier finden sich auch zwei in den Bevölkerungsbefragungen am häufigsten genannten Beweggründe: Neugier und Sensationslust. Zudem fallen dabei einige in Studie 2 stark negativ-abwertend konnotierten Nennungen auf, die im Modell in die Unterkategorie „Lustgewinn“ fallen.


Zwei weitere Schwerpunkte zeichnen sich bei den „biologischen Motiven“ und bei den „sozialpsychologischen Motiven“ ab: Die wohlwollend konnotierte Anteilnahme/Hilfsbereitschaft lässt sich der „Sorge um die eigene Art“ zuordnen. Die negativ konnotierte Selbstprofilierung lässt sich bei der „positiven Verstärkung“ im Rahmen einer sozialen Dynamik verorten.
Jeweils 3 Beweggründe aus t1 und aus t2 (s. [Abb. 4] unter „Sonstige“) konnten keiner Motivkategorie im Modell zugeordnet werden. Hier fällt jedoch auf, dass die negativ konnotierten Beweggründe aus t1 als den im Modell vorgesehenen „personenbezogenen Variablen“ (s. [Abb. 1]) zugehörig verstanden werden können. Die wohlwollend konnotierten Beweggründe aus t2 können hingegen als „ereignisbezogene Variablen“ (s. [Abb. 1]) interpretiert werden. Hier deutet sich eine Beziehung zwischen der moralischen Valenz und der Zuordnung zur Person versus zur Situation an.
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Situationale versus dispositionale Beweggründe
Neben der Dimension „wohlwollend – abwertend“ kann ein weiterer Faktor zur Interpretation der Ergebnisse herangezogen werden: Der US-amerikanische Psychologe Lee Ross untersuchte, ob Menschen Handlungen oder deren Konsequenzen eher mit Persönlichkeitsmerkmalen der Handelnden in Verbindung bringen oder mit den situationalen Rahmenbedingungen. Der von ihm geprägte fundamentale Attributionsfehler (FAE) besagt [9] [10]: Menschen tendieren dazu, die Faktoren einer Situation, die bei einer anderen Person zu einer bestimmten Handlung führen, zu vernachlässigen. Stattdessen werden deren (vermeintliche) Persönlichkeitseigenschaften zu stark gewichtet. Betrachtet man die hier erhobenen Beweggründe zum Zuschauen an notfallmedizinischen Einsatzorten, zeigt sich, dass bei der Einschätzung der Beweggründe anderer Personen weniger situationale und mehr dispositionale Beweggründe genannt werden als bei eigenen Beweggründen. Fast alle der 13 Beweggründe aus t1 (s. [Tab. 1]) lassen sich dispositional einordnen. In den 8 Kategorien aus t2 hingegen lassen sich 4 situational deuten: Unfall auf dem Weg/ging nicht anders, persönliche Betroffenheit, berufliches Interesse bzw. Beteiligung und Berichterstattung für Zeitung/Gemeinde. Hier scheint der FAE mit einer selbstwertdienlichen Interpretation des eigenen Verhaltens einherzugehen, die andere Maßstäbe an das eigene Verhalten im Vergleich zu jenem der Mitmenschen legt.
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Limitationen
Neben den neuen Einblicken in Beweggründe zum Zusehen bei Rettungsmaßnahmen weist der vorliegende Ansatz Limitationen auf. So gaben in t2 lediglich 13% der Befragten an, bereits an Einsatzorten zugesehen zu haben. Nur diese konnten sodann die Folgefrage nach Beweggründen für ihr eigenes Zuschauen beantworten. Insofern schrumpft die Stichprobe von 1012 auf 131 Personen.
Zuschauen an Unglücksorten wird gemeinhin als unerwünschtes Verhalten angesehen und als „Gaffen“ bezeichnet [1]. Bei Auskünften dazu ist ergo mit sozial erwünschtem Antwortverhalten zu rechnen. Bei beiden Onlinebefragungen ist daher bewusst keine unmittelbare soziale Situation, sondern maximale physische Distanz gewählt worden. Dennoch muss mit sozial erwünschten Antworttendenzen und somit einer Unterschätzung des tatsächlichen Zuschauens gerechnet werden (vgl. aber [11]).
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Fazit
Nicht alle von Karutz [1] postulierten Motive zum Zuschauen an Einsatzorten werden durch die vorliegenden Daten explizit validiert, aber für alle Bereiche des Modells gibt es spontane Nennungen der Befragten. Bei eigenen Beweggründen werden eher positiv konnotierte ereignisbezogene Variablen, individualpsychologische Eigenschaften oder biologische Motive genannt. Bei den Beweggründen anderer sind eher abwertend konnotierte personenbezogene Variablen, wie individueller Lustgewinn, sowie problematische sozialdynamische Effekte zu verzeichnen (siehe [Abb. 4]).
Zu t1 vermuteten 11% der Befragten, Menschen würden aus Dummheit bei Rettungsmaßnahmen zusehen. Für die Praxis lässt sich daraus konstruktiv ein Bildungsauftrag ableiten. In der emotional und kognitiv überfordernden Ausnahmesituation, die ein Notfalleinsatz für fachfremde Personen oft darstellt, ist kein klares Handlungsskript verfügbar [12] [13]: Es können unpassend erscheinende Verhaltensweisen auftreten, ggf. mit negativen Folgen für die Rettungsmaßnahmen oder die eigene psychische Gesundheit. Um Wissen über korrektes Verhalten bekannt zu machen, lancierte die Johanniter-Unfall-Hilfe in 10 Bundesländern eine Initiative mit dem Titel „Gaffen tötet“ [14].
Besonders klar wird, dass die in den Bevölkerungsbefragungen genannten Beweggründe sich in Abhängigkeit davon unterscheiden, ob andere bei Rettungseinsätzen zusehen oder ob die Person selbst dies tut. Kurzgefasst: Während „Ich“ aus Anteilnahme zusehe, tust „Du“ es aus Sensationsgier. Der in der Sozialpsychologie bekannte fundamentale Attributionsfehler hat hier zudem Gewicht: „mein“ Verhalten begründet sich durch die Situation (z. B. Unfall auf dem Weg/ging nicht anders), das gleiche Verhalten anderer wird durch feste Persönlichkeitseigenschaften (z. B. Anstandslosigkeit) erklärt.
Diskrepanzen dieser Art sind bereits aus anderen psychologischen Studien bekannt (z. B. Fehlverhalten im Straßenverkehr [15] oder Unfallverursachung [16]). Als ein zentrales Fazit für die Praxis kann gelten: Fachpersonen in der Notfall- und Rettungsmedizin sollten besonders auf eigene, möglicherweise einseitige Zuschreibungen achten. Den FAE zu verstehen ermöglicht es, vorschnelle Verurteilungen professionell zu reflektieren. Durch dieses Wissen können Konflikte vermieden oder entschärft werden.
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Einhaltung ethischer Richtlinien
Im Rahmen der Datenerhebung zu diesem Beitrag waren keine Risiken, besondere Belastungen oder Schäden für die Teilnehmenden zu erwarten. Insofern wurde kein Ethikantrag gestellt.
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Interessenkonflikt
Die für die Entstehung dieser Studie verwendeten Drittmittel sind im Rahmen eines Forschungsauftrags seitens der JUH an die Akkon Hochschule für Humanwissenschaften ausgezahlt worden. Die Autorin und der Autor unterliegen jedoch ausdrücklich der Forschungs- und Wissenschaftsfreiheit und konnten diese bei der Arbeit an diesem Artikel vollumfänglich wahrnehmen.
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Literatur
- 1 Karutz H. Zuschauendes Verhalten an Unglücksorten – nicht immer ist es „Schaulust“, nicht immer sind es „Gaffer“. Bundesgesundheitsblatt 2022; 65: 1043-1050
- 2 Ellebrecht N. Organisierte Rettung: Studien zur Soziologie des Notfalls. Wiesbaden: Springer VS, Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH; 2020
- 3 Colon NP, Rupp MA, Mouloua M. Temporary Barriers to Reduce the Effects of Rubbernecking. Proc Hum Factors Ergon Soc Annu Meet 2013; 57: 1810-1814
- 4 Gasch B, Lasogga F. Zuschauer. In: Lasogga F, Gasch B. Notfallpsychologie. Berlin, Heidelberg: Springer; 2011: 357
- 5 Hoffmann A. Pathologien des Sehens: Eine Affekt- und Mediengeschichte der Schaulust. In: Heyne E, Prokic T. Edition Medienwissenschaft. Bielefeld: transcript; 2022: 35-56
- 6 Karutz H. Zuschauer an der Einsatzstelle: eine differenzierte Betrachtung. Notfallmedizin up2date 2018; 13: 95-111
- 7 Wengenroth D, Przyrembel M, Karutz H. Zwischen Blaulicht, Blitzlicht und Zuschauenden: Das Fotografieverhalten von Rettungskräften. Notfallmedizin up2date 2023; 18: 253-273
- 8 Chan AHS, Ng AWY. Perceptions of implied hazard for visual and auditory alerting signals. Safety Science 2009; 47: 346-352
- 9 Ross L. The Intuitive Psychologist and his Shortcomings: Distortions in the Attribution Process. In: Berkowitz L. Advances in experimental social Psychology. Amsterdam: Elsevier; 1977: 173-220
- 10 Ross L. From the Fundamental Attribution Error to the Truly Fundamental Attribution Error and Beyond: My Research Journey. Perspect Psychol Sci 2018; 13: 750-769
- 11 Lajunen T, Summala H. Can we trust self-reports of driving? Effects of impression management on driver behaviour questionnaire responses. Transport Res F-TRAF 2003; 6: 97-107
- 12 Hortensius R, Schutter DJLG, De Gelder B. Personal distress and the influence of bystanders on responding to an emergency. Cogn Affect Behav Neurosci 2016; 16: 672-688
- 13 Hortensius R, De Gelder B. From Empathy to Apathy: The Bystander Effect Revisited. Curr Dir Psychol Sci 2018; 27: 249-256
- 14 Przyrembel M. Tötet Gaffen? Problembewusstsein in der Bevölkerung und eine präventive JUH-Initiative. Notfall Rettungsmed 2024;
- 15 Kaiser S, Furian G, Schlembach C. Aggressive Behaviour in Road Traffic – Findings from Austria. Transp Res Proc 2016; 14: 4384-4392
- 16 Flick C, Schweitzer K. Influence of the Fundamental Attribution Error on Perceptions of Blame and Negligence. Exp Psychol 2021; 68: 175-188
Korrespondenzadresse
Publication History
Received: 04 March 2024
Accepted after revision: 09 June 2024
Article published online:
09 July 2024
© 2024. Thieme. All rights reserved.
Georg Thieme Verlag KG
Oswald-Hesse-Straße 50, 70469 Stuttgart, Germany
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