Notaufnahme up2date 2025; 07(01): 89-107
DOI: 10.1055/a-2305-9007
Spezifische Aspekte in der Notaufnahme

Besondere hereditäre Erkrankungen bei Patient*innen mit Migrationshintergrund

Fokus auf Sichelzellkrankheit, Thalassämie und Familiärem Mittelmeerfieber
Hans-Michael Kauerz
 

Mit zunehmender Diversität der Gesellschaft behandeln wir in Notaufnahmen zunehmend häufig Patient*innen u.a. aus dem Mittelmeerraum, der arabischen Halbinsel sowie Afrika mit hierzulande seltenen hereditären Erkrankungen. Dieser Artikel soll die Grundprinzipien in Diagnostik und Therapie für das Familiäre Mittelmeerfieber, die Thalassämien sowie die Sichelzellkrankheit im Setting der Notaufnahme vermitteln.


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Abkürzungen

ANV: akutes Nierenversagen
ASH: American Society of Hematology
ATS: akutes Thoraxsyndrom
EMA: European Medicines Agency
FAST: Focused Assessment with Sonography in Trauma
FMF: familiäres Mittelmeerfieber
HbA: adultes Hämoglobin
HbF: fetales Hämoglobin
HbS: Hämoglobin S
KOF: Körperoberfläche
MCV: mittleres korpuskuläres Volumen
MRT: Magnetresonanztomografie
NSAR: nicht steroidale Antirheumatika
NTDT: nicht transfusionsabhängige Beta-Thalassämie
OPSI: Overwhelming Post-Splenectomy Infection
PCA: patient*innenkontrollierte Analgesie
SAA: Serum-Amyloid A
SCD: Sichelzellerkrankung
TDT: transfusionsabhängige Beta-Thalassämie
TRAPS: TNF-Rezeptor-assoziiertes periodisches Fieber-Syndrom
VOC: vasookklusive Krise


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Einleitung

Die Geschichte der Menschheit ist gekennzeichnet von Migrationsbewegungen: Beginnend mit der Ausbreitung des Homo sapiens über alle Kontinente hinaus, weiter beobachtet in der Antike z.B. im Rahmen der Eroberung Germaniens durch die Römer oder in der Spätantike im Zeitraum der sog. „Völkerwanderung“. Auch die Entdeckung der „Neuen Welt“ durch Christoph Kolumbus löste nachfolgende Migrationsbewegungen nach Amerika aus. In der Moderne sind Migrationsbewegungen inzwischen alltägliche Routine. Alleine für 2023 weisen gemäß Statistischem Bundesamt 30% aller in Deutschland lebenden Personen einen Migrationshintergrund auf, somit kommen sie entweder selbst oder ihre Eltern aus einem anderen Land als Deutschland [1]. Die verschiedenen Prävalenzen von Erkrankungen dieser Neuansässigen stellt Gesundheitssysteme vor neue Herausforderungen. Dieser Artikel soll vor allem Besonderheiten chronischer, hereditärer Erkrankungen von Patient*innen beleuchten, wobei ein Schwerpunkt auf das Familiäre Mittelmeerfieber (FMF) sowie die Formen der Hämoglobinopathien, Sichelzellerkrankung (SCD) und die Thalassämien, gelegt werden soll.


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Akutvorstellung mit Familiärem Mittelmeerfieber in der Notaufnahme

Patient*innen mit bekanntem FMF suchen die Notaufnahme häufig aufgrund eines akuten Fieberschubs auf. Die Herausforderung für das medizinische Fachpersonal besteht darin, zwischen einem typischen FMF-Schub, potenziellen Komplikationen oder anderen Differenzialdiagnosen zu unterscheiden. Eine Fehldiagnose oder das Übersehen einer schweren Komplikation können schwerwiegende Konsequenzen haben.

Familiäres Mittelmeerfieber beim Erwachsenen

Fallbeispiel 1

Eine 22-jährige Patientin mit türkischem Migrationshintergrund stellt sich in der Notaufnahme mit hohem Fieber (39,5°C), schmerzhaften Schwellungen am rechten Sprunggelenk und starken Bauchschmerzen vor. Die Beschwerden treten seit etwa 10 Jahren rezidivierend auf, jeweils für 1–3 Tage, und werden oft von einer peritonitisartigen Symptomatik begleitet. In der Familienanamnese gibt die Patientin mehrere Verwandte mit ähnlichen Symptomen an. Im letzten Jahr erfolgten 2 Laparoskopien bei einer ähnlichen Episode ohne klärenden Befund. Auch in der gynäkologischen Mitbeurteilung hätte sich nie eine eindeutige Diagnose finden lassen. Laborchemisch zeigt sich einzig eine ausgeprägte Entzündungsreaktion mit erhöhtem CRP (C-reaktives Protein) und Leukozytose. Aufgrund der ausgeprägten Schmerzsymptomatik wird die Patientin stationär aufgenommen. Eine ausführliche Anamnese und die typische Klinik lassen an das FMF denken. Die symptomatische Therapie mit Ibuprofen und Prednisolon mit zeitgleicher Pantoprazol-Einnahme zeigt eine gute Wirksamkeit. Eine genetische Testung bestätigt die Diagnose im Verlauf. Die Patientin wird auf Colchicin eingestellt, was im weiteren ambulanten Verlauf zu einer deutlichen Reduktion der Attacken führt.

Das FMF ist eine autoinflammatorische Erkrankung, die durch eine autosomal-rezessiv vererbte Punktmutation im MEFV-Gen verursacht wird, was zu einer Dysfunktion des Proteins Pyrin führt. Eine hohe Prävalenz wird vor allem im südöstlichen Mittelmeerraum beobachtet, insbesondere bei Menschen mit türkischer, armenischer und arabischer Herkunft sowie bei sephardischen Juden. Auch in Italien, Spanien und Griechenland [2] sowie in milderen Formen in Japan [3] tritt FMF auf. In Deutschland haben etwa 10% der Bevölkerung mediterrane Wurzeln oder sind aus Ländern entlang der Seidenstraße eingewandert und haben daher ein Risiko, an FMF zu erkranken, und es wird geschätzt, dass in Deutschland rund 5800 Betroffene leben [4]. Der typische Verlauf ist vor allem durch wiederkehrende Fieberschübe und Entzündungen seröser Körperhöhlen (Peritonitis, Pleuritis und Synovitis) gekennzeichnet. In über 90% der Fälle manifestiert sich FMF in der Kindheit oder Jugend, kann jedoch auch bei Erwachsenen und vereinzelt erst nach dem 60. Lebensjahr diagnostiziert werden. Ohne adäquate Therapie kann FMF zu schwerwiegenden Komplikationen wie Amyloidose führen, die vor allem Nieren und Herz betreffen, aber prinzipiell alle Organe schädigen kann.

Einteilung der Verlaufsformen

Das FMF zeigt 3 Verlaufsformen, die sich hinsichtlich Symptomatik und Schweregrad unterscheiden:

  • Typ I: klassische Form mit inflammatorischen Attacken: Dies ist die klassische und zugleich häufigste Form des FMF, die durch wiederkehrende Fieberschübe, starke Bauch- und Brustschmerzen (z.B. Peritonitis, Pleuritis) sowie Gelenkschmerzen (z.B. Arthralgien, Arthritis) gekennzeichnet ist. Die Attacken dauern typischerweise 1–3 Tage und treten in unregelmäßigen Abständen auf. Unbehandelt kann im Krankheitsverlauf eine Amyloidose auftreten. Als Amyloidose bezeichnet man die pathologische Ablagerung von fehlgefalteten Proteinen in Zellen und Gewebe. Dies führt zu einer chronischen Funktionsstörung der betroffenen Organe, besonders häufig zur Niereninsuffizienz. Prinzipiell kann jedes Organ wie z.B. auch das Herz betroffen sein.

  • Typ II: Amyloidose (als einzige Manifestation): Bei dieser Verlaufsform fehlen die typischen Fieberattacken, und die Amyloidose ist die primäre und oft einzige Manifestation. Ohne akute Schübe entwickelt sich eine fortschreitende Amyloidose, wobei das Fehlen der klassischen FMF-Symptome die Diagnose erschwert.

  • Typ III: asymptomatische Form: Diese Form zeigt keinerlei klinische Symptome, weder akute Attacken noch Amyloidose. Patient*innen weisen jedoch meist eine positive Familienanamnese auf und tragen häufig 2 pathogene Mutationen.

Exkurs

Pathophysiologie des Familiären Mittelmeerfiebers

Die Pathophysiologie des FMF ist komplex und beruht auf dysregulierten Entzündungsprozessen im angeborenen Immunsystem. Pyrin spielt eine zentrale Rolle in der Entzündungsregulation, vor allem durch die Aktivierung des Pyrin-Inflammasoms. Durch die Fehlfunktion von Pyrin kommt es zu Fieber und Entzündung seröser Körperbereiche


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Diagnostik bei Erwachsenen

Die Diagnosestellung bei Erwachsenen stellt aufgrund atypischer oder milder Symptome eine besondere Herausforderung dar ([Abb. 1]):

  • Anamnese: Wichtige Hinweise liefern episodische Fieberschübe und Entzündungen seröser Körperhöhlen (z.B. Peritonitis, Pleuritis, Arthritis), die typischerweise 24–72 Stunden andauern, sowie die ethnische Herkunft und eine positive Familienanamnese.

  • Klinische Untersuchung: Während eines Schubes zeigen sich typische Entzündungen seröser Körperhöhlen, meist mit Ergussbildung im Rahmen einer Pleuritis, Perikarditis, Peritonitis oder Synovitis der großen Gelenke. Außerhalb der Schübe sind die Patient*innen meist symptomfrei.

  • Labordiagnostik: Während eines akuten Schubs erhöhen sich Entzündungsparameter wie CRP und BSG. Leukozytose und erhöhte Neutrophilenzahlen sind häufig und normalisieren sich in den symptomfreien Intervallen.

Merke

Obwohl bei 80% der Patient*innen MEFV-Mutationen nachweisbar sind, schließt ein negatives genetisches Ergebnis FMF nicht aus.

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Abb. 1 Typische Symptome des FMF sind Fieber sowie Schmerzen im Bereich der serösen Körperhöhlen. Die Beschwerden dauern typischerweise 1–3 Tage und klingen spontan wieder ab.

Diagnosekriterien: Als Diagnosekriterien können für die weitere Abklärung im stationären Setting oder in Spezialsprechstunden zur Bestätigung der Verdachtsdiagnose die Tel-Hashomer-Kriterien herangezogen werden, die sich vor allem auf klinische Befunde stützen. Zusätzlich existiert eine Klassifizierung nach Eurofever/Paediatric Rheumatology International Trials Organisation (PRINTO), die allerdings eine genetische Testung voraussetzt.

Merke

Man sollte an das FMF denken bei:

  • rezidivierende Schmerzepisoden mit und ohne Fieber

  • vollständigem Abklingen nach 3 Tagen mit und ohne Therapie

  • typischer Familienanamnese oder Abstammung

  • hohen Entzündungszeichen im Schub

Anamnese und klinische Bewertung

Bei bekanntem FMF ist eine detaillierte Erhebung der aktuellen Symptome essenziell, insbesondere der folgenden Angaben:

  • Dauer und Intensität des Fiebers: Ein typischer FMF-Schub dauert 1–3 Tage. Länger anhaltendes Fieber oder ungewöhnlich hohe Temperaturen können auf andere Ursachen hinweisen.

  • Begleitsymptome: Wiederkehrende Bauchschmerzen deuten oft auf eine FMF-assoziierte Peritonitis hin. Bei stark gespanntem Abdomen, anhaltenden Schmerzen oder ungewöhnlicher Schmerzlokalisation sollten andere akute abdominale Ursachen (z.B. Appendizitis, Pankreatitis, viszerale Ischämie) ausgeschlossen werden.

  • Therapie-Compliance: Eine Non-Compliance in Bezug auf die Colchicin-Dauertherapie kann häufig schwerere Schübe begünstigen.

Labordiagnostik bei akuter Vorstellung

Leukozytose und erhöhte Entzündungsparameter treten sowohl bei FMF als auch bei bakteriellen Infektionen auf. Procalcitonin kann hier hilfreich sein, da dieser Marker bei FMF-Schüben in der Regel nicht erhöht ist und auf eine zusätzliche bakterielle Infektion hinweist (z.B. Pneumonie, Pyelonephritis oder Sepsis anderer Genese).

Bei erstmaligem Verdacht auf ein FMF oder bei Vorliegen einer Amyloidose bei bekanntem FMF sollte im Rahmen der weiteren ggf. stationären Abklärung Serum-Amyloid A (SAA) kontrolliert werden, da dieser für der Diagnosestellung hilfreich sein. Ebenso deutet ein chronisch erhöhter SAA-Spiegel auf eine anhaltend hohe Entzündungsaktivität des FMF hin und erhöht das Risiko für sekundäre Amyloidose.

Merke

Während eines FMF-Schubes sind Entzündungsmarker wie CRP, BSG und SAA typischerweise erhöht, die Entzündungswerte normalisieren sich jedoch zwischen den Schüben.

Bildgebende Diagnostik

Eine Ultraschall- oder computertomografische (CT) Untersuchung des Abdomens kann notwendig sein, um bei unklaren abdominalen Beschwerden akute intraabdominale Komplikationen (z.B. Perforation, Appendizitis, Divertikulitis) auszuschließen. Bei bis zu ⅓ aller Patient*innen mit FMF kann eine Splenomegalie a.e. infolge der chronischen Entzündungsreaktion gefunden werden.

Bei Pleuraschmerzen sollte eine Röntgenaufnahme des Thorax erfolgen, um eine Pleuritis von einer Pneumonie zu differenzieren.

Mögliche Perikardergüsse können mit Ultraschall nachgewiesen werden, z. B. mit Echokardiografie bei Thoraxschmerzen oder in der subxiphoidalen Anlotung beim FAST (focused Assessment with Sonography in Trauma).

Zusatzinfo

Hinweis zu Gelenkmanifestationen

Arthritis-Schübe bei FMF betreffen häufig große Gelenke wie Knie oder Hüfte. Eine Ultraschalluntersuchung kann hilfreich sein, um Gelenkergüsse zu identifizieren; bei tiefen Gelenken kann eine Magnetresonanztomografie (MRT) zur genaueren Beurteilung der Gelenkstrukturen erforderlich sein.


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Überwachung potenzieller Komplikationen

Bei Patient*innen mit häufigen FMF-Schüben sollte regelmäßig auf Amyloidose-Manifestationen u.A. der Nieren untersucht werden. In der Notaufnahme können Urin-Stick-Tests als Screening-Instrument und bei positivem Befund nachfolgende quantitative Proteinmessungen im 24-Stunden-Urin empfohlen werden. Insbesondere bei bereits bekannter renaler Amyloidose ist die regelmäßige Kontrolle der Nierenwerte (Kreatinin, Harnstoff) sinnvoll.

Ebenso können extrarenale Amyloidose-Manifestationen zu Akutvorstellungen in der Notaufnahme führen, dies kann u.a. das Herz mit Perikarderguss, Herzrhythmusstörungen oder Zeichen der Herzinsuffizienz [5], aber auch Haut oder Darm betreffen.


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Therapiemöglichkeiten für die Akuttherapie in der Notaufnahme

In der Akuttherapie bei FMF-Schüben steht die symptomatische Behandlung im Vordergrund. Patient*innen, die sich mit einem akuten Schub in der Notaufnahme vorstellen, sollten wie folgt behandelt werden:

  • nicht steroidale Antirheumatika (NSAR): Ibuprofen (400–800 mg alle 6–8 Stunden) oder Naproxen (250–500 mg zweimal täglich) zur Linderung von Entzündungen und Schmerzen.

  • Paracetamol: 1 g alle 6 Stunden als Antipyretikum und Analgetikum.

  • Kortikosteroide: In schweren Fällen, insbesondere bei ausgeprägter entzündlicher Beteiligung seröser Körperhöhlen, können kurzfristig systemische Kortikosteroide eingesetzt werden (Prednisolon 20–60 mg pro Tag, absteigend je nach klinischem Ansprechen).

Bei besonders schweren oder therapieresistenten Fällen kann die Gabe von IL-1-Inhibitoren (z.B. Anakinra) in Erwägung gezogen werden.


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Therapiemöglichkeiten für die Dauertherapie

Die Langzeittherapie des FMF basiert primär auf der regelmäßigen Einnahme von Colchicin zur Vermeidung von Schüben und zur Prophylaxe gegen Amyloidose:

  • Colchicin: Startdosis bei Erwachsenen 1–2 mg/Tag, angepasst an klinisches Ansprechen und Verträglichkeit. Die maximale Dosis beträgt 2,5 mg pro Tag. Colchicin reduziert die Häufigkeit und Schwere der Schübe und ist in über 95% der Fälle wirksam. Das Risiko einer Amyloidose konnte unter Colchicin-Therapie von 60% auf 13% gesenkt werden.

  • IL-1-Blockade: Bei unzureichendem Ansprechen oder Unverträglichkeit gegenüber Colchicin kommen IL-1-Rezeptorantagonisten wie Anakinra (100 mg subkutan täglich) oder der monoklonale Antikörper Canakinumab (150 mg subkutan alle 4–8 Wochen) zum Einsatz. Diese Therapeutika führen zu einer signifikanten klinischen Besserung bei Colchicin-Resistenz.

Das Ziel der Therapie ist eine ausreichende Verträglichkeit und daraus resultierende Compliance der Patient*innen, da häufige Nebenwirkungen wie Diarrhöen die Adhärenz beeinträchtigen können. Neben der Reduktion der Episodenhäufigkeit ist auch eine laborchemische Kontrolle der Entzündungsparameter (CRP- und SAA-Werte) empfehlenswert.


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Besondere Gruppen von Patient*innen

Für schwangeren Frauen sollte eine Colchicin-Therapie, wenn möglich, beibehalten werden, da dies als ausreichend sicher gilt. Sowohl die Patientin wie auch der Fötus sollten jedoch engmaschig überwacht werden, auch um schwangerschaftsassoziierte Komplikationen nicht zu übersehen.

Für Kinder und Jugendliche ist die frühzeitige Diagnosestellung und Therapieeinleitung essenziell, um Spätfolgen zu vermeiden. Die Colchicin-Dosierung muss individuell nach Körpergewicht angepasst werden, um eine sichere und zugleich effektive Behandlung zu gewährleisten.

Patient*innen mit Niereninsuffizienz benötigen wie auch ältere Patient*innen eine sorgfältige Anpassung der Colchicin-Dosis, um eine Kumulation des Medikaments zu verhindern. Eine engmaschige Überwachung der Nierenfunktion ist notwendig, um zusätzliche Schäden zu vermeiden.

Bei Patient*innen mit Colchicin-Resistenz oder -Unverträglichkeit müssen ggf. alternative Behandlungsstrategien eingesetzt werden, um eine effektive Symptomkontrolle zu erreichen. Es ist zudem wichtig, mögliche andere autoinflammatorische Erkrankungen als Differenzialdiagnosen in Betracht zu ziehen.

[Tab. 1] stellt Bedürfnisse, Differenzialdiagnosen und -therapien der verschiedenen Patientengruppen gegenüber.

Tab. 1 Besondere Patient*innengruppen.

Patient*innengruppe

besondere Bedürfnisse

Auswahl spezifischer Differenzialdiagnosen

Differenzialtherapie bei akutem Schub

NSAR: nicht steroidale Antirheumatika, TRAPS: TNF-Rezeptor-assoziiertes periodisches Syndrom, HIDS: Hyper-IgD-Syndrom, SLE: systemischer Lupus erythematodes, IL: Interleukin, TNF: Tumornekrosefaktor

schwangere Frauen

Therapie- und Management-Anpassung für Mutter und Fötus; Colchicin möglichst beibehalten, engmaschige Überwachung

Präeklampsie, HELLP-Syndrom

Colchicin beibehalten, ggf. Paracetamol; bei schwerem Schub ggf. IL-1-Inhibitoren

ältere Patient*innen

Berücksichtigung von Komorbiditäten und verminderter Nierenfunktion; vorsichtige Colchicin-Dosierung

Herzinfarkt oder instabile Angina, Divertikulitis, Arthrose

Colchicin-Dosisreduktion, vorsichtiger Einsatz von NSAR; ggf. IL-1-Inhibitoren bei schweren Schüben

Kinder und Jugendliche

frühzeitige Diagnose zur Vermeidung von Komplikationen; Dosierung von Colchicin nach Körpergewicht

juvenile idiopathische Arthritis (JIA), Morbus Crohn

Colchicin-Dosis nach Gewicht, NSAR zur Schmerz- und Fieberkontrolle; IL-1-Inhibitoren bei Unverträglichkeit

Patient*innen mit Niereninsuffizienz

angepasste Colchicin-Dosis zur Vermeidung von Kumulation; engmaschige Nierenüberwachung erforderlich

akute Pyelonephritis, akutes Nierenversagen (ANV)

Colchicin-Dosisreduktion, Vermeidung von NSAR; ggf. Paracetamol und IL-1-Inhibitoren

Patient*innen mit Colchicin-Resistenz oder -Unverträglichkeit

alternative Therapieoptionen notwendig; Behandlung anderer autoinflammatorischer Syndrome prüfen

autoinflammatorische Syndrome (z.B. TRAPS, HIDS, SLE, Rheumatoide Arthritis, oder Adult-Onset-Still-Syndrom)

IL-1-Inhibitoren, ggf. TNF-Inhibitoren


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Sichelzellerkrankung

Fallbeispiel 2

Ein 24-jährige Frau mit bekannter Sichelzellerkrankung wird mit Luftnot und starken Brust- und Knochenschmerzen in die Notaufnahme gebracht. Sie berichtet über kürzliche Rückenschmerzen, die sie als typische vasookklusive Krise kennt, sowie über ein leichtes Fieber.

Bei der klinischen Untersuchung zeigt sich eine Tachypnoe (Atemfrequenz 28/min), Hypoxie (Sauerstoffsättigung (SpO₂) 89% unter Raumluft) und feine Rasselgeräusche über beiden Lungenbasen. Das Röntgen-Thorax zeigt bilaterale Infiltrate. Die Blutwerte zeigen eine Anämie (Hb 6,5 g/dl), eine Retikulozytose und erhöhte Entzündungsparameter.

Die Patientin wird mit Sauerstoff, i.v. Antiboitika und Analgesie behandelt und zur Überwachung auf die Intensivstation aufgenommen. Es erfolgt zudem bei akutem Thoraxsyndrom (ATS) die Transfusion von 2 Erythrozytenkonzentraten. Nach 2-tägiger intensivmedizinischer Therapie kann die Patientin unter intensiver Atemtherapie auf die Normalstation verlegt und nach 1 Woche wieder entlassen werden.

Die SCD ist eine erbliche Hämoglobinopathie, die weltweit die häufigste monogenetische Erkrankung darstellt. Sie ist durch eine Mutation im β-Globin-Gen charakterisiert, die zu einer Bildung von abnormalem Hämoglobin S (HbS) führt. Bei Hypoxie polymerisiert HbS, was die charakteristische Sichelform der Erythrozyten verursacht und eine Vielzahl akuter und chronischer Komplikationen nach sich zieht.

In der Notaufnahme stellt die SCD eine besondere Herausforderung dar, da die betroffenen Patient*innen häufig mit akuten Krisen wie vasookklusiven Schmerzereignissen, dem ATS, akuten neurologischen Komplikationen oder Nierenversagen vorstellig werden. Der Schweregrad der Krisen kann erheblich variieren, und viele Patient*innen leiden bereits unter chronischen Organschäden, die mit der Krankheit einhergehen. Dies macht ein umfassendes und interdisziplinäres Notfallmanagement erforderlich.

Gemäß einer Schätzung werden jährlich etwa 200 Kinder mit dieser Erkrankung geboren [6] und es leben etwa 3000–5000 Patienten mit einer Sichelzellerkrankung in Deutschland [7]. Obwohl die Krankheit typischerweise im Kindesalter diagnostiziert wird und das klinische Bild in der frühen Kindheit durch akute Komplikationen dominiert wird, nimmt bei erwachsenen Patient*innen die Häufigkeit chronischer Organschäden zu. Die verbesserte medizinische Versorgung hat zwar die Überlebensraten und Lebensqualität bei Betroffenen verbessert, doch die durchschnittliche Lebenserwartung der Patient*innen ist immer noch um etwa 20–30 Jahre reduziert [8]. Typische Notfallindikationen bei Erwachsenen umfassen neben Schmerzkrisen das ATS, schwere Anämien und Infektionen, welche durch die funktionelle Asplenie der Patient*innen begünstigt werden.

Die häufigsten Gründe für den Notaufnahmekontakt sind vasookklusive Schmerzkrisen, die durch die Blockade von Gefäßen durch die steifen, gesichelten Erythrozyten verursacht werden. Diese führen zu starken Schmerzen und können multiple Organsysteme betreffen, darunter Knochen, Lungen und das Zentralnervensystem. Die Basistherapie mit Flüssigkeitsgabe, Schmerztherapie und ggf. Antibiotikagabe kann jede Notaufnahme leisten.

Schlussendlich ist ein multidisziplinäres Team aus Hämatologen, Intensivmedizinern und Schmerztherapeuten in komplexen Fällen notwendig, um eine optimale Versorgung sicherzustellen. Eine Besonderheit liegt insbesondere bei der Transfusionstherapie bei SCD-Patient*innen, da diese Patient*innen ein erhöhtes Risiko für Transfusionsreaktionen aufweisen. Entsprechend kann eine frühzeitige Rücksprache mit einem Zentrum und ggf. auch eine Verlegung dorthin sinnvoll sein.

Pathophysiologie der Sichelzellerkrankung

Die SCD ist eine autosomal-rezessiv vererbte Hämoglobinopathie, die durch eine Punktmutation im β-Globin-Gen (HBB) verursacht wird. Infolgedessen wird anstelle des normalen adulten Hämoglobins (HbA) das pathologische Hämoglobin S (HbS) synthetisiert. Die zentrale pathophysiologische Folge dieser Mutation ist die Bildung von HbS-Polymeren unter hypoxischen Bedingungen. Dies bedingt die Deformierung der Erythrozyten zu charakteristisch sichelförmigen Zellen ([Abb. 2]).

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Abb. 2 Blutausstrich bei Sichelzellerkrankung. 1. Normaler Blutausstrich (Quelle: Haferlach T, Engels M, Diem H, Hrsg. Taschenatlas Hämatologie. 7. Auflage. Stuttgart: Thieme; 2019). 2. Blutausstrich eines homozygoten HbS-Anlagenträgers (Quelle: Greten H, Rinninger F, Greten T, Hrsg. Innere Medizin. 13. Auflage. Stuttgart: Thieme; 2010).

Neben der vasookklusiven Schädigung trägt die chronische Entzündungsaktivität zur Pathogenese der zahlreichen Folgekomplikationen bei, z.B. dem ATS.

Zusätzlich kommt es durch Mikroinfarkte in der Milz bereits im Kindesalter häufig zur Hyposplenie oder funktionellen Asplenie, was das Risiko für lebensbedrohliche Infektionen erheblich erhöht. Auch die Nieren sind frühzeitig betroffen und es kommt zu einer fortschreitenden Niereninsuffizienz.

Insgesamt ist die Pathophysiologie der Sichelzellerkrankung ein komplexes Zusammenspiel aus vaskulärer Obstruktion, hämolytischer Anämie, chronischer Entzündung und oxidativem Stress, das zu Multiorganschäden und einer signifikant reduzierten Lebenserwartung der Patient*innen führt.


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Akute Komplikationen beim Erwachsenen

Vasookklusive Schmerzkrise

Die vasookklusive Schmerzkrise (VOC) ist die häufigste und charakteristischste akute Komplikation der Sichelzellerkrankung und der häufigste Grund für Krankenhauseinweisungen. Sie wird durch die Verstopfung kleiner Blutgefäße durch gesichelte Erythrozyten ausgelöst, was zu einer Ischämie und einem starken, oft schwer behandelbaren Schmerzsyndrom führt. Besonders betroffen sind das Knochenmark, die Extremitäten, die Lunge und das Abdomen.

VOC treten oft plötzlich auf und können durch Faktoren wie Infektionen, Dehydration, Kälte oder emotionalen Stress ausgelöst werden. Die Symptome umfassen anhaltende, oft unerträgliche Schmerzen, die mehrere Stunden bis Tage andauern können. Eine differenzierte Schmerztherapie ist essenziell, wobei starke Analgetika wie Opioide in der Regel notwendig sind. Der Einsatz von Morphin ist in den meisten Fällen erforderlich und sollte titriert verabreicht werden, um rasch eine Schmerzfreiheit zu erreichen.

Begleitend müssen Flüssigkeitsmangel, Hypoxie und mögliche Infektionen aggressiv behandelt werden, um weitere vasookklusive Ereignisse zu verhindern. Gleichzeitig ist eine Hyperhydrierung zu vermeiden, da diese die Entstehung pulmonaler Symptome begünstigen kann. Hydroxyurea, das die Bildung von fetalem Hämoglobin (HbF) steigert und die Sichelung hemmt, ist die präventive Standardtherapie bei Patient*innen mit häufigen Krisen.


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Akutes Thoraxsyndrom

Das ATS ist eine der schwerwiegendsten und häufigsten Todesursachen bei Patient*innen mit Sichelzellerkrankung. Es tritt häufig im Rahmen oder kurz nach einer vasookklusiven Schmerzkrise auf und ist durch neue pulmonale Infiltrate, begleitet von Fieber, Husten, Brustschmerzen, Atemnot und Hypoxie, gekennzeichnet. Pathophysiologisch liegt dem ATS eine Kombination aus vasookklusiven Ereignissen in der Lunge begünstigt durch Hypoventilation und/oder Überwässerung, Infektionen oder Fett- und Knochenmarkembolien zugrunde.

Die Diagnose wird durch eine Röntgenaufnahme des Thorax bestätigt, die oft bilaterale Infiltrate zeigt ([Abb. 3]). Da das ATS radiologisch nicht von einer Pneumonie zu unterscheiden ist, muss besonders in der klinischen Frühphase eine differenzierte Diagnostik erfolgen. Die Therapie erfordert eine sofortige stationäre Aufnahme und eine aggressive Behandlung mit Sauerstoffgabe, frühzeitiger Transfusion (bei Hb <7 g/dl) und eventuell Antibiotikatherapie. Austauschtransfusionen werden bei schweren Verläufen eingesetzt, um den HbS-Anteil schnell zu reduzieren und die Sauerstoffversorgung zu verbessern. Hydroxyurea wird präventiv verabreicht, um das Risiko zukünftiger ATS-Episoden zu verringern.

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Abb. 3 Akutes Thoraxsyndrom bei einem 7-jährigen Mädchen mit homozygoter Sichelzellkrankheit (HbSS). a Röntgen-Thoraxaufnahme vor Austauschtransfusion. Links Minderbelüftung mit Dystelektasen von Teilen des Unterlappens, rechtsbetonter Hilus und zentrale Zeichnungsvermehrung, größenbetontes Herz, wahrscheinlich im Sinne einer Hyperzirkulation bei relativem Volumenmangel. b Röntgen-Thoraxaufnahme derselben Patientin, 2 h nach Austauschtransfusion. Zurückbildung der Minderbelüftungen bzw. Minderperfusionen der linken Lunge, rechts etwas vermehrt Minderbelüftung, Abnahme der Herzgröße (Quelle: Dieckerhof R. Therapie. In: Griese M, Nicolai T, Hrsg. Praktische Pneumologie in der Pädiatrie – Therapie. 1. Auflage. Stuttgart: Thieme; 2013. DOI: 10.1055/b-002–57163).

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Schlaganfälle

Schlaganfälle sind eine schwere und oft lebensbedrohliche Komplikation der Sichelzellerkrankung, die besonders im Kindesalter, aber auch bei jungen Erwachsenen auftreten kann. Ischämische Infarkte sind dabei weitaus häufiger als hämorrhagische Insulte. Das Risiko, einen Schlaganfall zu erleiden, ist bei SCD-Patient*innen im Vergleich zur Normalbevölkerung im Kindesalter etwa 300-fach erhöht und gleicht sich kontinuierlich mit fortschreitendem Lebensalter an.

Die Pathophysiologie des Schlaganfalls bei SCD umfasst eine chronische vaskuläre Schädigung durch wiederholte vasookklusive Episoden, die zu einer progressiven Arteriosklerose und einem erhöhten Risiko für Gefäßverschlüsse führen. Die Diagnostik erfolgt klassisch mittels neurologischer Untersuchung und Bildgebung (CT oder MRT).

Das Management umfasst in der akuten Phase in der Regel eine Austauschtransfusion mit dem Ziel, den HbS-Anteil unter 30% zu senken und damit die Sauerstoffversorgung des Gehirns zu verbessern sowie die Vasookklusion zu verhindern. Regelmäßige Transfusionen und auch die Behandlung mit Hydroxyurea sind essenziell, um das Schlaganfallrisiko langfristig zu senken [9].


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Priapismus

Ein Priapismus tritt bei etwa 30–45% der männlichen SCD-Patienten auf, typischerweise zwischen dem 15. und 30. Lebensjahr. Es handelt sich um eine anhaltende, schmerzhafte Erektion, die auf eine vasookklusive Krise in den Corpora cavernosa des Penis zurückzuführen ist. Der ischämische Priapismus, bei dem es zu einer verminderten Blutzirkulation kommt, stellt einen urologischen Notfall dar, denn ohne rasche Intervention kann es zu irreversiblen Gewebeschäden und Impotenz kommen. Häufig berichten Patienten aus Schamgefühl zunächst nicht von dieser Komplikation, daher sollte aktiv nachgefragt werden.

Das Management umfasst zunächst die vollständige Blasenentleerung, Analgetikagabe und lokale Wärme (warmes Bad/Dusche). Etilefrin 50 mg oral beim Erwachsenen kann innerhalb der ersten 3 Stunden eingesetzt werden, Innerhalb von 4 Stunden muss dann allerdings eine Aspiration des Blutes aus dem Corpus cavernosum erfolgen und gegebenenfalls die Spülung mit vasokonstriktiven Substanzen wie Phenylephrin.

Wiederkehrende, kurze Episoden, der sogenannte „Stuttering Priapism“, können präventiv mit auch mit Etilefrin behandelt werden. Langfristig ist bei häufigen Episoden auch der Einsatz von Hydroxyurea zur Reduktion von Priapismusepisoden möglich. Da auch nächtliche Hypoxiephasen Auslöser sein können, sollten Patienten im Schlaflabor auf hypoxische Episoden gescreent werden.


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Akutes Nierenversagen

Das akute Nierenversagen (ANV) tritt bei etwa 4% der Sichelzellkrisen auf und ist häufig ein Bestandteil eines Multiorganversagens. Pathophysiologisch ist das ANV bei SCD-Patient*innen durch ischämische Schädigungen des Nierengewebes aufgrund der Sichelzellokklusion sowie durch die toxischen Effekte der Hämolyse auf das Endothel gekennzeichnet. Ein frühes Zeichen kann bereits ein Kreatininwert am oberen Maximum sein und sollte daher engmaschig im stationären Setting kontrolliert werden. Die Therapie umfasst klassischer Weise die Volumensubstitution, Korrektur von Elektrolytstörungen und gegebenenfalls eine Dialyse. Austauschtransfusionen werden bei schwerem ANV eingesetzt, um die Sauerstoffversorgung des Nierengewebes zu verbessern und das Fortschreiten der Nierenschädigung zu stoppen.


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Therapie

Antibiotikatherapie bei akuter Sichelzellkrise

Patient*innen mit SCD haben u.a. durch eine funktionelle Asplenie ein erhöhtes Risiko für schwere Infektionen, u.a. mit bekapselten Bakterien (Pneumokokken, Meningokokken, Haemophilus influenzae) und Salmonellen. Eine antibiotische Therapie sollte daher immer diese Erreger berücksichtigen und diese Patient*innen bei Fieber engmaschig überwacht werden, damit im Zweifel frühzeitig mit einer antibiotischen Therapie begonnen werden kann.

Sollte eine Neutropenie z.B. nach Metamizolgabe auftreten, so ist die Gabe von G-CSF bei Nicht-Stammzelltransplantierten SCD-Patient*innen kontraindiziert, da dies schwere Komplikationen die Erhöhung der Blutviskosität hervorrufen kann. Nach allogener Transplantation kann die Gabe von G-CSF nach aktuellen Daten jedoch problemlos erfolgen [10].

Merke

Ceftriaxon sollte aufgrund einer zwar seltenen, aber schweren antikörpervermittelten Hämolyse nach Möglichkeit vermieden werden.


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Transfusionstherapie bei Sichelzellkrisen

Bluttransfusionen sollen bei der Sichelzellanämie möglichst auf akute schwere Komplikationen wie eine schwere Anämie, einen Schlaganfall, eine Milz-Sequestration oder das akute Thoraxsyndrom (ATS) begrenzt werden. Hierdurch soll eine Eisenüberladung der Patient*innen möglichst vermieden werden [11].

Grundsätzlich unterscheidet man die Einfachtransfusion, mittels Gabe von einzelnen Erythrozytenkonzentraten, von einer Austauschtransfusion ([Abb. 4]). Bei letzterer wird mittels Aderlasses zunächst ein gewisser Anteil von HbS-haltigem Blut „abgelassen“ und dann durch Spender-Erythrozyten mit gesundem Hb ersetzt. Ziel ist meist ein HbS-Anteil <30%. An Zentren sind auch maschinelle Austauschtransfusionen mittels Apharese-Einheit möglich. Grundsätzlich sollte daher bei Indikation zur Austauschtransfusion eine entsprechende Abstimmung mit einem Zentrum erfolgen [12] [13].

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Abb. 4 Transfusionstherapie bei Sichelzellanämie (Quelle: Westphal S, Zacharowski K, Meybohm P. Interventionelle Therapie. In: Zacharowski K, Marx G, Hrsg. Referenz Anästhesie. 1. Auflage. Stuttgart: Thieme; 2020). ATS: akutes Thoraxsyndrom

[Tab. 2] listet Beispiele für fehlende Transfusionsindikationen auf.

Tab. 2 Beispiele für fehlende Transfusionsindikation [7] [8] [9] [10].

Situation ohne Transfusionsindikation

Erläuterung

unkomplizierte vasookklusive Krise (VOC) inkl. Schmerzkrisen

Bei unkomplizierten VOC ohne schwere Organkomplikationen wird keine Transfusion empfohlen, um Risiken wie Eisenüberladung zu vermeiden. Schmerzen sollten möglichst durch andere Maßnahmen therapiert werden.

chronische Anämie ohne Symptome

Chronische Anämie bei SCD-Patient*innen (SCD: Sichelzellenkrankheit) mit Hämoglobinwerten von 7–9 g/dl benötigt in der Regel keine Transfusion, wenn keine Symptome einer Hypoxie vorliegen.

Alloimmunisierung oder anderweitig hohes Transfusionsrisiko

Patient*innen mit Alloimmunisierungen oder einem anderweitigen hohen Risiko für Transfusionsreaktionen sollten nur bei lebensbedrohlichen Zuständen transfundiert werden.


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Schmerztherapie bei der Sichelzellerkrankung

Aktuelle Empfehlungen zur Schmerztherapie bei Patient*innen mit einer SCD, die mit akuten Schmerzen in der Notaufnahme oder im Krankenhaus vorgestellt werden, betonen vor allem eine schnelle und wirksame Analgesie. Akute Schmerzen erfordern häufig den Einsatz von hochwirksamen Analgetika und die American Society of Hematology (ASH) empfiehlt den Einsatz von Opioiden als Haupttherapie in der Notfallbehandlung, um starke Schmerzen schnell zu lindern [14]. In einer aktuellen Untersuchung zeigte sich, dass in über 90% der Krankenhausaufnahmen Opioide eingesetzt wurden, wobei zunehmend Methoden wie patientenkontrollierte Analgesie (PCA) und niedrig dosierte Ketamininfusionen Anwendung finden, um die Opioidwirksamkeit zu verbessern und Nebenwirkungen zu reduzieren.

Neben der Opioidtherapie werden auch nicht pharmakologische Maßnahmen wie physikalische Therapie, Musiktherapie und kognitive Verhaltenstherapie eingesetzt. Diese Ansätze, obwohl effektiv, werden jedoch oft unzureichend genutzt

Ketamin bietet bei Schmerzkrisen mehrere potenzielle Vorteile, insbesondere wenn es zur Linderung akuter Schmerzepisoden verwendet wird, die durch VOC verursacht werden. Ein wesentlicher Nutzen von Ketamin besteht darin, dass es als alternatives Analgetikum bei Patient*innen eingesetzt werden kann, die auf Opioide nicht ausreichend ansprechen oder deren Schmerzen trotz Opioidtherapie nicht effektiv gelindert werden. Ketamin wirkt durch Blockade von N-Methyl-D-Aspartat-Rezeptoren, was zu einer Reduzierung zentraler Sensibilisierungsprozesse führt, die eine Rolle bei chronischen und akuten Schmerzen spielen.

In der Praxis wird Ketamin in subanästhetischen Dosen im Bereich um 0,1 mg/kg KG/h als Zusatz zu Opioiden eingesetzt, um deren Wirkung zu verstärken und gleichzeitig die benötigte Opioiddosis zu reduzieren. Dies reduziert das Risiko von Nebenwirkungen wie Atemdepression und Toleranzentwicklung. Studien haben gezeigt, dass Ketamin in diesen niedrigen Dosen effektiv Schmerzen bei VOC lindern kann, ohne die typischen psychoaktiven Effekte, die bei höheren Dosen auftreten, zu verursachen [14].

Merke

Durch den Einsatz von niedrig dosiertem Ketamin kann die benötigte Dosis von Opioiden reduziert werden.


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Volumentherapie

Die intravenöse Flüssigkeitstherapie spielt eine wichtige unterstützende Rolle bei der Behandlung von Schmerzkrisen im Rahmen der SCD, insbesondere während VOC.

Generell wird intravenöse Flüssigkeitstherapie als unterstützende Maßnahme betrachtet, um die Blutviskosität zu senken und durch die Flüssigkeitszufuhr eine Dehydratation zu verhindern, die das Risiko von weiteren VOC erhöhen könnte. Darüber hinaus kann eine adäquate Hydratation auch die Nierenfunktion schützen, da die Nieren durch die hämolytischen Prozesse bei der Sichelzellerkrankung häufig belastet werden.

Obwohl die intravenöse Flüssigkeitstherapie allein nicht ausreicht, um die Schmerzen direkt zu lindern, ist sie eine entscheidende Begleitmaßnahme, die häufig in Kombination mit Analgetika wie Opioiden und nicht pharmakologischen Ansätzen eingesetzt wird ([Tab. 3]). Eine Überwässerung ist allerdings zu vermeiden, da dies zu Komplikationen wie einem Lungenödem führen und das Entstehen eines ATS begünstigen kann.

Tab. 3 Therapieoptionen zur Analgesie im Rahmen einer vasookklusiven Krise bei Sichelzellanämie.

Medikament

empfohlene Dosierung

Kommentar

Vollelektrolytlösung (z.B. Jonosteril)

pragmatisch Initial 500–1000 ml i.v. danach 1–2 ml/kg/h

Vermeidung von Dehydratation, Verbesserung der Rheologie, Überwässerung vermeiden

Paracetamol (i.v.)

10–15 mg/kg alle 4–6 Stunden, max. 4 g/Tag

für leichte bis moderate Schmerzen, häufig als Basistherapie eingesetzt

Ibuprofen (oral)

10 mg/kg alle 6–8 Stunden, max. 2400 mg/Tag

nicht steroidales Antirheumatikum (NSAR)

Morphin (i.v.)

initial 0,05–0,1 mg/kg alle 2–4 Stunden

hauptsächlich bei starken Schmerzen eingesetzt; Dosierung je nach Schwere der Schmerzen und Patient*innenanamnese anpassen

Hydromorphon (i.v.)

initial 0,015 mg/kg alle 3–4 Stunden

Alternative zu Morphin bei Patient*innen, die auf Morphin nicht ansprechen oder es nicht vertragen

Ketamin (i.v., subanästhetisch)

0,1 mg/kg/h als Infusion

Unterstützung der Opioidtherapie bei unzureichender Schmerzbehandlung oder, um Opioiddosis zu reduzieren

Cave: Bereits bei Dosen um 0,3 mg/kgKG/h sind typische Nebenwirkungen wie Nystagmus und „Bad Trips“ bereits um den Faktor 11 erhöht [15].

PCA (patient*innenkontrollierte Analgesie)

Morphin oder Hydromorphon, Dosis individuell eingestellt

ermöglicht den Patient*innen die Kontrolle über die Schmerzmedikation und verhindert Überdosierung

Praxistipp

„Golden Rules“ bei Sichelzellanämie

  • Transfusionsindikation kritisch stellen:

    • Erwäge Austausch- statt Einfachtransfusion (hierfür stationäre Aufnahme, möglichst auf einer IMC- oder Intensivstation).

    • Möglichst keine Transfusion bei Schmerzkrise.

    • Keine Transfusion bei Hb >5,5 g/dl und gutem Allgemeinzustand.

    • Hb nicht über 10,5 g/dl anheben.

  • Retikulozyten bereits initial z.A. einer aplastischen Krise mitbestimmen.

  • Kreatininwerte an der oberen Norm weisen auf ein akutes Nierenversagen hin.

  • Schmerzen immer ernst nehmen und frühzeitig adäquat therapieren.

  • Eine Schmerzkrise tritt ca. 50-mal häufiger auf als eine Osteomyelitis.

  • Stark erhöhte CRP-Werte und Fieber können auch bei einer reinen vasookklusiven Schmerzkrise auftreten.

  • Gesamtflüssigkeitszufuhr auf 2–2,5 l/m² Körperoberfläche (KOF) in 24 h begrenzen.

  • Immer Atemtraining für die Station anordnen.

  • Bei Bauchschmerzen neben der Milz auch an paralytischen Ileus denken.

  • Ceftriaxon vermeiden und bekapselte Erreger bei antibiotischer Therapie berücksichtigen.


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Thalassämien

Alpha-Thalassämie

Die Alpha-Thalassämie ist eine genetische Erkrankung, die durch eine verminderte oder fehlende Produktion der Alpha-Globin-Ketten des Hämoglobins gekennzeichnet ist. Dies resultiert aus Deletionen oder Mutationen auf Chromosom 16, welches die Alpha-Globin-Gene enthält. Normalerweise besitzt der Mensch 4 Alpha-Globin-Gene, 2 pro Chromosom. Die Schwere der Erkrankung hängt von der Anzahl der betroffenen Gene ab:

  • Der Verlust 1 Genes führt zu keiner oder nur sehr milden Symptomatik (stille Träger).

  • Der Verlust von 2 Genen verursacht eine milde bis moderate mikrozytäre Anämie (Alpha-Thalassämie minor).

  • Der Verlust von 3 Genen führt zur HbH-Krankheit, einer moderaten bis schweren Form der hämolytischen Anämie.

  • Der Verlust aller 4 Alpha-Gene mit Bildung von Hb-Bart resultiert im Hydrops fetalis, einer schweren und in der Regel letalen Erkrankung im Uterus.

Pathophysiologie und Klinik

Das Ungleichgewicht zwischen Alpha- und Beta-Globin-Ketten führt zu einer ineffektiven Erythropoese und chronischer Hämolyse. Bei der HbH-Krankheit lagern sich überschüssige Beta-Ketten zu instabilen Tetrameren (HbH) zusammen, die oxidativen Stress begünstigen und in Erythrozyten präzipitieren. Dies resultiert in einer chronischen mikrozytären, hypochromen Anämie und einer Splenomegalie. Durch die verminderte Sauerstoffbindungskapazität von HbH und die Anfälligkeit für oxidativen Stress kommt es zu weiteren Komplikationen wie Eisenüberladung durch wiederholte Transfusionen und infektionsbedingter Verschlechterung der Anämie.


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Diagnostik

Ein Blutbild zeigt oft eine mikrozytäre Anämie mit einem reduzierten mittleren korpuskulären Volumen (MCV). Bei der HbH-Krankheit können im Blutausstrich Heinz-Körper (Einschlüsse) nachgewiesen werden. Die Hämoglobinelektrophorese zeigt abnormal wandernde Hämoglobine. Zur definitiven Diagnose sind genetische Tests erforderlich, insbesondere bei schwereren Formen wie der Hb-Bart-Krankheit oder zur pränatalen Diagnose.


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Therapie

Die Behandlung richtet sich nach der Schwere der Erkrankung. Bei milden Formen der Alpha-Thalassämie ist meist keine spezifische Therapie notwendig. Patient*innen mit HbH-Krankheit benötigen möglicherweise in Stresssituationen wie Infektionen oder oxidativem Stress Bluttransfusionen. Eine Eisenchelationstherapie wird bei Patient*innen mit chronischer Transfusionsabhängigkeit eingesetzt, um Eisenüberladung zu verhindern. Bei schweren Verläufen, wie bei der HbH-Krankheit, können eine Splenektomie oder in extremen Fällen eine allogene Stammzelltransplantation indiziert sein.

Merke

Bei schweren Infektionen oder in Stresssituationen wie z.B. großen Operationen kann auch bei der Alpha-Thalassämie eine Transfusion erforderlich sein.


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Besonderheiten im Notfall

Patient*innen mit Alpha-Thalassämie können in Notfallsituationen mit schwerer Anämie, Sepsis, Herzinsuffizienz oder Thromboembolien in der Notaufnahme vorstellig werden. Eine schnelle Beurteilung der Transfusionsgeschichte, des Eisenstatus und möglicher infektionsbedingter Komplikationen ist entscheidend. Patient*innen, die transfusionsabhängig sind, sollten frühzeitig transfundiert werden, um schwere Anämiesymptome zu verhindern. Zudem besteht besonders nach Splenektomie ein erhöhtes Risiko für Infektionen durch bekapselte Bakterien, was bei der Sepsisdiagnose berücksichtigt werden muss.


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Beta-Thalassämie

Fallbeispiel 3

Ein 22-jähriger Patient mit Beta-Thalassämie major und Zustand nach Splenektomie im Kindesalter stellt sich mit hohem Fieber (40°C), Schüttelfrost und abdominalen Schmerzen in der Notaufnahme vor. In der Anamnese berichtet er über leichte Erkältungssymptome mit Husten und gelblichem Auswurf in den letzten Tagen. Bei der Untersuchung zeigt sich eine ausgeprägte Blässe, Tachykardie (Puls 115/min), Hypotonie (95/60 mmHg) und eine milde Hepatomegalie. Die Laborwerte zeigen eine Anämie (Hb 6,8 g/dl), stark erhöhte Entzündungsmarker (CRP 24,5 mg/l, Leukozyten 18000/µl). Blutkulturen werden abgenommen und aufgrund des septischen Krankheitsbilds sowie der im Kindesalter erfolgten Splenektomie eine Kombinationstherapie mit Piperacillin/Tazobaktam und Vancomycin eingeleitet. Es erfolgt die Aufnahme auf die Intensivstation und dort eine differenzierte Flüssigkeits- und Transfusionstherapie. Die mikrobiologische Diagnostik bestätigt später einen Pneumokokkensepsis, sodass eine antibiogrammgerechte Deeskalation der antibiotischen Therapie im Verlauf erfolgt. Nach 2 Wochen stationärer Behandlung kann der Patient wieder entlassen werden.

Die Beta-Thalassämie wird durch eine verminderte oder fehlende Produktion der Beta-Globin-Ketten des Hämoglobins verursacht. Je nach Ausmaß der genetischen Veränderung unterscheidet man die Beta-Thalassämie in minor (heterozygote Mutation, meist mild), intermedia (variabel schwerer Verlauf) und major (homozygote Mutation, auch Cooley-Anämie genannt), wobei die Beta-Thalassämie major die schwerste Form darstellt. Gemäß Schätzungen leben in Deutschland etwa 500 Patient*innen mit Thalassämia major sowie etwa 160000 Patient*innen mit Thalassämia minor [16].

Pathophysiologie und Klinik

Durch die unzureichende Produktion der Beta-Globin-Ketten kommt es zur Bildung von instabilen und überschüssigen Alpha-Ketten, die in den Erythrozyten präzipitieren und deren Abbau in der Milz fördern. Dies führt zu einer ineffektiven Erythropoese, Hämolyse und chronischer Anämie. In schwereren Fällen, wie bei der Beta-Thalassämie major, entwickelt sich eine transfusionsabhängige Anämie. Die wiederholten Transfusionen und der vermehrte Eisenstoffwechsel führen zu Eisenüberladung, die Organe wie Herz, Leber und endokrine Organe betrifft. Häufige klinische Manifestationen sind schwere Anämie, Hepatosplenomegalie, Skelettdeformationen durch Knochenmarkhyperplasie und bei langfristigen Komplikationen Herzinsuffizienz, Leberzirrhose und endokrine Dysfunktionen.


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Diagnostik

Die Diagnose der Beta-Thalassämie wird mittels Blutbild, Blutausstrich ([Abb. 5]) und Hb-Elektrophorese gestellt. Patient*innen zeigen in der Regel eine mikrozytäre, hypochrome Anämie mit einer erhöhten Zahl an kernhaltigen Erythroblasten.

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Abb. 5 Blutausstich bei Thalassämie. Ausgeprägtere Thalassaemia minor mit starker Anisozytose und Poikilozytose, basophiler Tüpfelung und vereinzelten Targetzellen. (Quelle: Haferlach T, Engels M, Diem H. Störungen der Erythrozyten und Thrombozyten. In: Haferlach T, Engels M, Diem H, Hrsg. Taschenatlas Hämatologie. 7. Aufl. Stuttgart: Thieme; 2019)

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Therapie

Die Therapie der Beta-Thalassämie richtet sich nach der Schwere der Erkrankung. Bei Beta-Thalassämie minor ist oft keine spezifische Behandlung notwendig. Patient*innen mit Beta-Thalassämie major benötigen regelmäßige Bluttransfusionen, um die Hämoglobinkonzentration im Bereich von 9–10 g/dl zu halten. Eine Eisenchelationstherapie ist essenziell, um die Eisenüberladung durch die Transfusionen zu verhindern. Chelatbildner wie Deferoxamin oder Deferasirox werden eingesetzt, um überschüssiges Eisen aus dem Körper zu entfernen. In ausgewählten Fällen kann eine allogene Stammzelltransplantation eine kurative Option darstellen.


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Besonderheiten im Notfall

In Notfallsituationen können Patient*innen mit Beta-Thalassämie aufgrund von Komplikationen wie schwerer Anämie, Herzinsuffizienz, Sepsis oder Thromboembolien in die Notaufnahme kommen. Bei Patient*innen mit transfusionsabhängiger Beta-Thalassämie (TDT) ist die Einhaltung eines regelmäßigen Transfusionsplans essenziell, um Anämiesymptome zu verhindern. Ein weiteres Risiko besteht in einer Eisenüberladung, die eine sorgfältige Überwachung und Behandlung erfordert. Infektionskomplikationen sind insbesondere nach Splenektomie häufig und erfordern eine rasche interventionelle Behandlung. Thromboembolische Komplikationen treten häufiger bei nicht transfusionsabhängiger Beta-Thalassämie (NTDT) auf und müssen im klinischen Management berücksichtigt werden.

Merke

Im Fokus der Notfalltherapie bei der Beta-Thalassämie steht die Klärung des Transfusionsbedarfs sowie einer antibiotischen Therapie.


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Stammzelltransplantation

Für die Beta-Thalassämie major sowie die Sichelzellanämie ist die Stammzelltransplantation die einzige kurative Therapie und wird dafür insbesondere bei jungen Patient*innen mit passenden (Familien-)Spendern erwogen. Auch bei schweren Krankheitsverläufen oder multiplen Komplikationen wird sie in Betracht gezogen. Eine Limitation stellt neben potenziellen Nebenwirkungen die begrenzte Verfügbarkeit von passenden Spendern dar. Da die Nebenwirkungsrate bereits im frühen Erwachsenenalter ansteigt, ist eine frühzeitige Anbindung an ein Transplantationszentrum ratsam.

Eine CRISPR/Cas9-basierte Geneditierung (CRISPR: clustered regularly interspaced short palindromic Repeats) als kurativer Therapieansatz der Sichelzellkrankheit bei wurde kürzlich von der EMA (European Medicines Agency) zugelassen [17]. Sie wird jedoch zunächst nur wenigen spezialisierten Zentren vorbehalten sein


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Spezifische medikamentöse Therapien

Für die Beta-Thalassämie steht mit Luspatercept ist ein neues Medikament, das zur Behandlung der transfusionsabhängigen Beta-Thalassämie eingesetzt wird. Es reduziert den Transfusionsbedarf, indem es die Reifung der Erythrozyten fördert.

Hydroxyurea führt zu einer Erhöhung der Konzentration von fetalem Hämoglobin (HbF) und erhöht so bei der Thalassämie den Hb-Wert und vermindert die Häufigkeit von Transfusionen. Bei der Sichelzellanämie wird durch den erhöhten HbF-Gehalt das Auftreten von vasookklusiven Krisen verringert.

Die Sichelzellanämie wurde in den letzten Jahren mittels einiger neuer, spezifischer medikamentöser Therapien behandelt. In Europa wurde jüngst allerdings die Zulassung für den Hb-Polymerisationsinhibitor Voxelotor aufgrund vermehrter Todesfälle zurückgezogen. Ebenso wurde dem monoklonalen Antikörper Crizanlizumab aufgrund fehlender therapeutischer Wirksamkeit die EU-Zulassung entzogen.


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Infektionsrisiko nach Splenektomie

Patient*innen mit Beta-Thalassämie erfahren oft früh eine Splenektomie, insbesondere bei splenomegaliebedingten Komplikationen. Auch bei der Sichelzellanämie kommt es z.B. nach rezidivierenden Milzsequestrationen oder aber bei einem Milzabszess zur Indikation einer operativen Splenektomie. Darüber hinaus liegt bei der Sichelzellanämie häufig eine funktionelle Asplenie vor. Ebenso wie auch die chirurgische Splenektomie führt diese zu einem erhöhten Risiko für Infektionen durch bekapselte Bakterien. Prophylaktische Impfungen gegen Pneumokokken, Meningokokken und Haemophilus Influenzae B sind von zentraler Bedeutung. Ebenso sollte im Falle von Infektionen die Antibiotikaauswahl entsprechende Wirksamkeit gegen bekapselte Erreger aufweisen, häufig haben diese Patient*innen auch einen Notfallausweis.

Daten zur lebenslangen Antibiotikaprophylaxe zur Verhinderung einer „Overwhelming Post-Splenectomy Infection“ (OPSI) gibt es zwar für Patient*innen >5 Jahre nicht. Grundsätzlich wird aber empfohlen, dass Patient*innen mit einer anamnestisch stattgehabten invasiven Pneumokokkeninfektion sowie nach chirurgischer Splenektomie eine entsprechende 1–2 Jahre dauernde Antibiotikaprophylaxe erhalten sollten. Diese kann mit Penicillin V oder Amoxicillin bzw. bei Penicillinallergie mit Erythromycin durchgeführt werden und sollte bei Krankenhausbehandlungen innerhalb des Prophylaxe-Zeitraums auch nicht unterbrochen werden [18].


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Selbsthilfegruppen und Patienteninformationsmaterial

Für alle 3 in diesem Artikel genannten Erkrankungen existieren in Ergänzung zu den genannten Quellen dieses Artikels auch Informationsmöglichkeiten für Ärzt*innen und Patient*innen sowie auch Selbsthilfegruppen im Internet:

  • Für das Familiäre Mittelmeerfieber ist Informationsmaterial beispielsweise des „FMF Deutschland e.V.“ unter https://www.fmf-deutschland.info.

  • Für Sichelzellerkrankung und Thalassämie stellt z.B. die „Interessengemeinschaft Sichelzellkrankheit und Thalassämie e.V.“ unter https://www.ist-ev.org Informationen zur Verfügung.

Kernaussagen
  • Bei völlig unklaren Fieberepisoden auch an periodische Fiebersyndrome denken und durch gezielte Anamnese adressieren.

  • Colchicin ist beim Familiären Mittelmeerfieber eine effektive Prophylaxe sowohl für Fieber- und Schmerzepisoden wie auch für eine Amyloidose.

  • Bei der Behandlung von Patient*innen mit Sichelzellerkrankung einem ATS durch Atemtherapie vorbeugen und dieses bei akuter Verschlechterung nicht übersehen.

  • Transfusionen sollten bei Sichelzellerkrankung nur nach strenger Indikationsstellung erfolgen.

  • Schmerzangaben bei Schmerzkrisen ernstnehmen und frühzeitig adäquat therapieren.

  • Bei Patient*innen nach Splenektomie oder bei funktioneller Asplenie im Falle eines Infekts bekapselte Erreger für die Antibiotikaauswahl berücksichtigen.

  • Bei der Anwendung neuer Therapieoptionen sollten Patient*innen engmaschig begleiten, da Nebenwirkungen mancher Therapien erst durch die Behandlung einer breiten Patientenanzahl erfasst werden.


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Wissenschaftlich verantwortlich gemäß Zertifizierungsbestimmungen

Wissenschaftlich verantwortlich gemäß Zertifizierungsbestimmungen für diesen Beitrag ist Dr. med. Hans-Michael Kauerz, Düsseldorf.


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Dr. med. Hans-Michael Kauerz


Jg. 1987, Facharzt für Innere Medizin, Notfallmedizin, Klinische Akut- und Notfallmedizin und Ärztliches Qualitätsmanagement. Nach seiner Facharztprüfung 2020 war er stellvertretender ärztlicher Leiter der Zentralen Notaufnahme am Evangelischen Krankenhaus Kalk, Oberarzt in der ZNA bei den Kliniken der Stadt Köln am Standort Köln-Merheim und ist seit 2022 als Oberarzt der Zentralen Notaufnahme des Universitätsklinikums Düsseldorf tätig.

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Interessenkonflikt

Erklärung zu finanziellen Interessen
Forschungsförderung erhalten: nein; Honorar/geldwerten Vorteil für Referententätigkeit erhalten: nein; Bezahlter Berater/interner Schulungsreferent/Gehaltsempfänger: nein; Patent/Geschäftsanteile/Aktien (Autor/Partner, Ehepartner, Kinder) an Firma (Nicht‐Sponsor der Veranstaltung): ja; Patent/Geschäftsanteile/Aktien (Autor/Partner, Ehepartner, Kinder) an Firma (Sponsor der Veranstaltung): nein
Erklärung zu nichtfinanziellen Interessen
Mitgliedschaft in der DGIM. DGINA. AGNNW sowie der DEGUM.


Korrespondenzadresse

Dr. med. Hans-Michael Kauerz
Zentrale Notaufnahme, Universitätsklinikum Düsseldorf, Heinrich-Heine Universität
Moorenstraße 5
40225 Düsseldorf
Deutschland   

Publication History

Article published online:
08 January 2025

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Georg Thieme Verlag KG
Oswald-Hesse-Straße 50, 70469 Stuttgart, Germany


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Abb. 1 Typische Symptome des FMF sind Fieber sowie Schmerzen im Bereich der serösen Körperhöhlen. Die Beschwerden dauern typischerweise 1–3 Tage und klingen spontan wieder ab.
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Abb. 2 Blutausstrich bei Sichelzellerkrankung. 1. Normaler Blutausstrich (Quelle: Haferlach T, Engels M, Diem H, Hrsg. Taschenatlas Hämatologie. 7. Auflage. Stuttgart: Thieme; 2019). 2. Blutausstrich eines homozygoten HbS-Anlagenträgers (Quelle: Greten H, Rinninger F, Greten T, Hrsg. Innere Medizin. 13. Auflage. Stuttgart: Thieme; 2010).
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Abb. 3 Akutes Thoraxsyndrom bei einem 7-jährigen Mädchen mit homozygoter Sichelzellkrankheit (HbSS). a Röntgen-Thoraxaufnahme vor Austauschtransfusion. Links Minderbelüftung mit Dystelektasen von Teilen des Unterlappens, rechtsbetonter Hilus und zentrale Zeichnungsvermehrung, größenbetontes Herz, wahrscheinlich im Sinne einer Hyperzirkulation bei relativem Volumenmangel. b Röntgen-Thoraxaufnahme derselben Patientin, 2 h nach Austauschtransfusion. Zurückbildung der Minderbelüftungen bzw. Minderperfusionen der linken Lunge, rechts etwas vermehrt Minderbelüftung, Abnahme der Herzgröße (Quelle: Dieckerhof R. Therapie. In: Griese M, Nicolai T, Hrsg. Praktische Pneumologie in der Pädiatrie – Therapie. 1. Auflage. Stuttgart: Thieme; 2013. DOI: 10.1055/b-002–57163).
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Abb. 4 Transfusionstherapie bei Sichelzellanämie (Quelle: Westphal S, Zacharowski K, Meybohm P. Interventionelle Therapie. In: Zacharowski K, Marx G, Hrsg. Referenz Anästhesie. 1. Auflage. Stuttgart: Thieme; 2020). ATS: akutes Thoraxsyndrom
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Abb. 5 Blutausstich bei Thalassämie. Ausgeprägtere Thalassaemia minor mit starker Anisozytose und Poikilozytose, basophiler Tüpfelung und vereinzelten Targetzellen. (Quelle: Haferlach T, Engels M, Diem H. Störungen der Erythrozyten und Thrombozyten. In: Haferlach T, Engels M, Diem H, Hrsg. Taschenatlas Hämatologie. 7. Aufl. Stuttgart: Thieme; 2019)