Subscribe to RSS
DOI: 10.1055/a-2567-7806
Die Empfehlungen der Adipositasleitlinie 2024

In den letzten 10 Jahren gab es eine Vielzahl von Fortschritten in allen Bereichen der Adipositasforschung, die auch Auswirkungen auf die klinische Betreuung von Menschen mit Adipositas haben. Nach mehrjähriger Recherche und Bewertung der Fachliteratur (systematische Reviews und Metaanalysen nach vordefinierten Suchbegriffen) sowie nach Diskussion der neuen Erkenntnisse in einer interdisziplinären Leitliniengruppe unter Federführung durch die Deutsche Adipositas-Gesellschaft (DAG) wurde schließlich im Oktober 2024 die Aktualisierung der S3-Leitlinie „Prävention und Therapie der Adipositas“ verabschiedet und öffentlich zugänglich gemacht [1]. Das Grundgerüst der klinischen Leitlinie aus dem Jahr 2014 [2] wurde beibehalten, ebenso wie eine Reihe von Empfehlungen. Erwähnenswert ist auch, dass einige Kapitel wie z.B. Stigmatisierung, Diagnostik, Prävention, Pharmakotherapie und eHealth komplett neu erstellt wurden, um aktuelle Neuentwicklungen aufzugreifen. Erklärtes Ziel war es, alle wesentlichen neuen Erkenntnisse und Entwicklungen aus den letzten 10 Jahren mit Relevanz für die Prävention und Therapie der Adipositas zu berücksichtigen.
Hervorzuheben ist, dass die interdisziplinäre Leitlinienkommission insgesamt 14 Fachgesellschaften und Verbände umfasste sowie zwei Selbsthilfeorganisationen, um die Perspektiven von Menschen mit Adipositas einzubeziehen. Diese verschiedenen Sichtweisen und Standpunkte führten zu einer intensiven Diskussion zu den relevanten Zielen einer Adipositasbehandlung und zur Frage nach dem Krankheitswert der Adipositas, der durchaus kontrovers betrachtet wurde. Die Mehrheit der Kommission stimmte überein, Adipositas als Risikofaktor für viele chronische Krankheiten und – in Übereinstimmung mit der Weltgesundheitsorganisation (WHO) [3] – als eigenständige Krankheit zu erklären. Es bestand Konsens, dass der Krankheitswert der Adipositas schwer zu bestimmen ist und eine überzeugende Definition der Krankheit Adipositas bis heute nicht gelungen ist.
Stigmatisierung
Menschen mit Adipositas erleben in ihren Lebensbereichen, darunter auch das Gesundheitssystem, häufig Diskriminierung und Stigmatisierung. Diese Erfahrung belastet die betroffenen Menschen und hat potenziell viele negative Auswirkungen, u.a. auch auf die Ergebnisse von Therapiekonzepten [4]. Daher war es der Leitlinien-Kommission wichtig, diese Aspekte besonders herauszustellen, um allen Formen einer gewichtsbezogenen Stigmatisierung entgegenzuwirken. Dies gilt besonders für die Kommunikation in medizinischen Einrichtungen. Bisher wird dieses Thema in den Ausbildungscurricula von Gesundheitsberufen kaum behandelt, obwohl (Selbst-) Stigmatisierung für Körperbild, Essverhalten, psychische Gesundheit und Lebensqualität von Menschen mit Adipositas eine große Bedeutung besitzt [4].
#
Diagnostik
Die formale Definition und Klassifizierung von Adipositas anhand des Body Mass Index (BMI) wurde wie in der Leitlinie aus dem Jahr 2014 [6] beschrieben, beibehalten. Ein erhöhter BMI erfordert immer weitere diagnostische Maßnahmen, um die Indikation für eine Behandlung stellen zu können. Verschiedene Parameter wie Fettverteilungsmuster (z.B. Taillenumfang), Körperzusammensetzung (z.B. Bioimpedanzanalyse), Blutdruck, metabolische Parameter (Glukose- und Lipidstoffwechsel, Transaminasen) und körperliche Leistungsfähigkeit sind für die Indikationsstellung zu einer Adipositastherapie essenziell. Zusätzlich sind psychische und soziale Parameter einzubeziehen. Diese Parameter sind außerdem für das Monitoring und die Bewertung des Therapieerfolgs von klinischer Bedeutung. Neben der subjektiven Lebensqualität sollten nach Möglichkeit auch „harte Endpunkte“ wie das Auftreten von Typ 2 Diabetes oder von Herz-Kreislauf-Krankheiten betrachtet werden. Es gibt hier eine große interindividuelle Heterogenität, die bei der Indikationsstellung für die Therapie und das Behandlungskonzept stets zu berücksichtigen ist.
#
Multimodale Basistherapie der Adipositas
Da die moderne Lebensweise mit übermäßiger Kalorienzufuhr und niedriger körperlicher Aktivität die Hauptursache für die Einwicklung einer Adipositas ist, wird eine multimodale Basistherapie zur dauerhaften Änderung der Lebensweise als erster und wichtigster Behandlungsschritt empfohlen. Dabei werden Ernährungs-umstellung, Bewegungssteigerung und Verhaltensmodifikation kombiniert und an die individuellen Bedingungen angepasst.
Eine Vielzahl von Ernährungsstudien mit unterschiedlichen Konzepten hat in den letzten Jahren die Behandlungsoptionen und damit die Wahlmöglichkeiten für die betroffenen Menschen deutlich erweitert. Die Datenlage hat sich auch für sehr niedrig-kalorische Kostformen, z.B. Formula-Diäten, verbessert, sodass diese vor allem für kurzfristige und größere Gewichtsreduktion genutzt werden können.
Die Bedeutung der alleinigen körperlichen Aktivität zur Gewichtsreduktion ist beschränkt, Menschen mit Übergewicht oder Adipositas sollen aber auf die gesundheitlichen Vorteile (metabolisch, kardiovaskulär, psychosozial) der körperlichen Aktivität hingewiesen werden, die unabhängig von der Gewichts-reduktion entstehen. Dauerhafte Verhaltensänderung zur Kontrolle von Ernährung und körperlicher Aktivität stellt weiterhin eine große Herausforderung dar, ist aber für den langfristigen Gewichtserhalt unerlässlich.
#
E-Health
Längst hat die Digitalisierung der Medizin auch in der Adipositasbehandlung Eingang gefunden. Neben den zahllosen Apps zur Gewichtsreduktion, die im Internet oder über soziale Medien beworben werden und für die keine systematischen Auswertungen von Wirksamkeit und Sicherheit zur Verfügung stehen, gibt es seit 2020 sog. Digitale Gesundheitsanwendungen (DiGA), die vom Bundesamt für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) für Therapiezwecke geprüft und zertifiziert werden und per Rezept von Ärzten/-innen verordnet werden können. Derzeit sind zwei Apps für die Indikation Adipositas (BMI 30 – 40 kg/m²) zugelassen. Die Kosten werden von den Krankenkassen erstattet. Trotz einer begrenzten Datenlage bewertet die Leitlinienkommission digitale Tools als hilfreich, um die multimodale Basistherapie zu unterstützen.
#
Adjuvante Pharmakotherapie
Die größten Änderungen in der Adipositastherapie ergaben sich in den letzten Jahren durch die Einführung neuer gewichtssenkender Medikamente [5]. Inkretin-Mimetika wie Semaglutid oder Tirzepatid senken ein erhöhtes Körpergewicht im Mittel um 10 bis 15% und bessern die meisten Begleit- und Folgekrankheiten. Sie sind als adjuvante Maßnahme zur multimodalen Basistherapie zugelassen, wenn diese alleine keine ausreichende Gewichtssenkung bewirken kann. Vor allem wegen der begrenzten Datenlage in der Routineversorgung entschied sich die Kommission für eine „kann“-Empfehlung. Mit neuen Studien und zunehmender Erfahrung in der Routineversorgung dürfte sich die Evidenz für den Einsatz dieser Medikamente zügig verbessern. Alle zugelassenen gewichts-senkenden Wirkstoffe sind rezeptpflichtig, aber bisher nicht erstattungsfähig.
#
Adipositaschirurgie
Die Empfehlungen zur Adipositaschirurgie basieren weiter auf der noch gültigen Leitlinie zur Adipositaschirurgie aus dem Jahr 2018 [6]. Derzeit gibt es Aktivitäten, diese zu aktualisieren und die neuen Entwicklungen in der Adipositaschirurgie zu berücksichtigen.
#
Aktuelle Empfehlungen
Die im Oktober 2024 verabschiedeten Empfehlungen werden im Folgenden im Wortlaut vorgestellt. Die Erläuterungen zu diesen Expertenkommentaren und Empfehlungen sind in der ausführlichen Leitlinie verfügbar [1].
#
Hinweis
Die an der Leitlinienerstellung mitwirkenden Organisationen und ihre Mandatsträger sind in der Leitlinie und im Leitlinienreport aufgeführt. Allen Beteiligten sei an dieser Stelle für das ehrenamtlich geleistete Engagement gedankt. Im Leitlinienreport sind mögliche Interessenskonflikte der beteiligten Personen aufgeführt.
#
Publication History
Article published online:
13 June 2025
© 2025. Thieme. All rights reserved.
Georg Thieme Verlag KG
Oswald-Hesse-Straße 50, 70469 Stuttgart, Germany
-
Literatur
- 1 Deutsche Adipositas-Gesellschaft (DAG) e.V. S3-Leitlinie Adipositas – Prävention und Therapie. AWMF-Register-Nr. 050/001, Version 5.0 Oktober 2024 https://register.awmf.org/de/leitlinien/detail/050-001
- 2 Wirth A, Wabitsch M, Hauner H.. Klinische Leitlinie: Prävention und Therapie der Adipositas. Dtsch Arztebl Int 2014; 111: 705-713
- 3 WHO. Obesity: preventing and managing the global epidemic. Report of a WHO consultation. WHO Report Series. 894. 2000
- 4 Pearl RL, Puhl RM.. Weight bias internalization and health. Obes Rev 2018; 19: 1141-1163
- 5 Gudzune KA, Kushner RF.. Medications for obesity. A review. JAMA 2024; 332: 571-584
- 6 Dietrich A, Aberle J, Wirth A. et al. Klinische Leitlinie: Adipositaschirurgie und Therapie metabolischer Erkrankungen. Dtsch Arztebl Int 2018; 115: 705-711